Die Beste Zum Schluss
Mal ein Wunder. Musik ist ihre Oase und Tanzen ihre Droge. Mir fällt ein, dass wir die iPod-Station zu Hause vergessen haben, und nehme mir vor, morgen loszuziehen, um ihr irgendwas zu kaufen, damit sie hier Musik hören kann.
Als ich meinen Blick durch den Raum gleiten lasse, blicke ich in die Augen eines Mannes, der mich mit offenem Mund anstarrt. Er hat die Augen weit aufgerissen und sieht mich so verstört an, dass ich ihm zuwinke. Mitten im Winken wird mir klar, wer es ist. Meine Hand erstarrt. Er dreht sich um und drängelt sich zum Ausgang durch. An der Tür wirft er noch einen Blick zu mir rüber und wirkt, als hätte er einen Geist gesehen. Dann verschwindet er nach draußen in den Regen. Die Tür schließt sich hinter ihm. Mein Herz schlägt, als wäre ich gerannt. Ich schaue mich um. Niemand scheint den hektischen Abgang bemerkt zu haben. Vielleicht war er gar nicht da. Vielleicht war er der Geist.
Ich leere meine Flasche in einem Schluck und drehe mich zur Theke. Bevor ich etwas sagen kann, stellt die Bedienung eine neue Flasche auf die Serviette.
»Also, kein Macho«, sagt sie und kassiert die leere Flasche.
Ich schaue sie fragend an. Sie nickt zur Tanzfläche.
»Kein Macho erträgt den Anblick seiner Frau in Juans Armen.«
Ich folge ihrem Blick. Auf der Tanzfläche wackelt Rene mit Juan herum. Immerhin haben sie noch die Klamotten an. Ich nehme einen tiefen Schluck. Wieder eiskalt. Wieder lecker. Mein Herz schlägt immer noch zu schnell.
»Ich hätte gerne einen braunen Tequila.«
In null Komma nichts stehen zwei Gläser Tequila mit Zimt und einer Orangenscheibe vor mir auf der Theke.
»Salud!«, sagt die Bedienung und lächelt schief. »Keine Sorge. Juan ist nur beim Tanzen selbstsicher. Sobald die Musik ausgeht, ist er schüchtern.«
Ah. Sie denkt, ich saufe seinetwegen.
»Schwer zu glauben.«
»War auch gelogen«, lacht sie.
Wir kippen den Schnaps, und sie beginnt wieder, Bestellungen aufzunehmen. Der Tequila brennt sich durch meine Kehle in den Magen, wo er sich warm ausbreitet. Ich werfe einen Blick zur Tür. Keiner da. Verrückt, ich habe tatsächlich seinen Namen vergessen. Ich sehe sein Gesicht vor mir – im Gerichtssaal, auf den Zeitungsfotos –, aber ich weiß nicht mehr, wie er heißt.
»Noch einen?«
Die Bedienung steht mir wieder gegenüber. An jedem anderen Tag würde ich mich über ihre Aufmerksamkeit wundern oder versuchen herauszufinden, wie weit sie geht. Heute nicke ich bloß.
Sie füllt nur mein Glas auf. Mir fällt etwas ein.
»Ist Juan Single?«
Sie mustert mich neugierig.
»Wieso?«
»Ja? Nein?«
Wieder der neugierige Blick, doch sie nickt ironisch.
»Ja, soviel ich weiß, ist er heute solo. Eigentlich ist er immer solo. Außer nachts.«
»Gut.«
Sie mustert mich einen Moment überrascht, dann unterdrückt sie ein Lächeln und schüttelt den Kopf, dass die schwarzen Locken fliegen.
»Das da vorne ist nie im Leben deine Freundin!«
»Aber klar ist sie das. Sie ist meine allerbeste Freundin, wir leben zusammen und erziehen ihre Kinder.«
Bevor sie nachhaken kann, ruft man sie. Sie macht eine Bin-gleich-wieder-da-Geste und geht an die Arbeit. Ich schnappe mein Bier und drängele mich in Richtung Ausgang. Draußen prasselt der Regen, als wäre es der Tag des Jüngsten Gerichts. Ich stelle mich unter das Minivordach und schaue mich um. Unter dem überdachten Eingang am Nachbarhaus steht ein knutschendes Pärchen. Weit und breit kein Geist. Die verlassene Straße wirkt so künstlich beleuchtet wie eine Hollywoodfilmszene aus den Vierzigern. Fehlt nur noch, dass Humphrey Bogart auftaucht.
Ich lasse die Geräusche des Regens auf mich wirken und atme die frische Luft ein. Henning . Henning heißt er. Ein Fremder, mit dem mich mehr verbindet als mit vielen Freunden. Der letzte Mensch, der meine Eltern lebend sah. Als Henning vier Wochen den Führerschein hatte, tat er das, was viele mal tun: Er trank zu viel und fuhr Auto. Viele von uns haben Glück. Henning nicht. Er überschätzte sich und geriet mit seinem Auto auf die andere Straßenseite. Dort raste er frontal in ein Fahrzeug, in dem ein Ehepaar saß, das soeben von dem achtzehnten Geburtstag ihres Sohnes kam. Sie hatten die Party früh verlassen, um die jungen Leute nicht beim Feiern zu stören. Sie waren auf der Stelle tot. Fast.
Ich hole tief Luft und lasse sie langsam aus meinen Lungen wieder hinausströmen. Eine Bewegung am Ende der Straße. Etwas Graues, Massiges schiebt sich durch den Regen. Die
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