Die Besteigung Des Rum Doodle
weitersteigen zu können, sollten wir lieber an Ort und Stelle lagern. Das taten wir. Ich stellte fest, dass wir uns auf 29 000 Fuß befanden. Wir hatten Lager 2 tatsächlich am ursprünglich geplanten Ort errichtet. Das erfüllte uns aber nicht mit Befriedigung, denn wir vermochten an nichts anderes zu denken als an die unserer Verdauung bevorstehenden Torturen.
9
Das verschwundene Lager
M anchmal wache ich selbst heute noch mitten in der Nacht schreiend auf, wenn ich im Traum das Elend jener erbärmlichen Nacht erneut durchlebe. Sobald die Zelte aufgestellt waren, krochen Constant und ich in unsere Schlafsäcke und erwarteten das Abendbrot. Auf diese Prüfung bereitete ich mich vor, indem ich über die christlichen Märtyrer meditierte und mir in Erinnerung rief, dass sich die Besteigung des Rum Doodle kaum lohnen würde, wenn es sich dabei nur um einen Spaziergang handelte. Anhaltendes Klappern aus der Richtung, in der Pongs Zelt stand, unterbrach jedoch meine Meditationen. Constant, der die Nerven zu verlieren begann, ging auf Erkundung hinaus. Zitternd kehrte er mit einem unheilkündenden Bericht zurück. Demnach kauerte Pong über einem großen Kochtopf, aus dem unbeschreibliche Gerüche aufstiegen. Der Boden vor dem Zelt war mit leeren Konservenbüchsen übersät, und Constant hatte festgestellt, dass sie just jene besonderen Delikatessen enthalten hatten, die wir einst ausgewählt hatten, um in großer Höhe unsere Gaumen zu kitzeln. Als der widerliche Brei dann gebracht wurde, bestätigten sich seine Befürchtungen. Alle erlesenen Leckereien waren in Pongs scheußlichen Eintopf gewandert: unsere saftige Hühnerbrust, die eingemachten Aprikosen mit Sahne, deren Geschmack wir uns so oft in Gedanken ausgemalt hatten, die Sardinen, der Kaviar, derHummer, der wunderbare Gruyère-Käse, die eingelegten Walnüsse, der Curry, der Salm, ja sogar Kaffee, Kekse und diverse Sorten Schokolade – alles war zu einem Brechreiz erregenden Brei vermanscht worden, der selbst Macbeths Hexen hätte schleunigst Reißaus nehmen lassen.
Die Schrecken dieser Mahlzeit aber waren nur das Vorspiel für eine Nacht, wie sie wohl nur wenige menschliche Wesen je ertragen haben. Es muss gegen Mitternacht gewesen sein, als ich aus einem Albtraum erwachte, in dem ich mich unter dem Rum Doodle begraben fand. Constant lag quer über meiner Brust, schnarchte laut und murmelte im Schlaf. Als ich ihn herunterschob, erwachte er mit einem Schreckensschrei und schlug mir derart auf die Nase, dass mir Tränen in die Augen traten. Ich entschuldigte mich dafür, dass ich ihn geweckt hatte, und wir legten uns wieder hin. Ich musste eingenickt sein, denn ich erwachte plötzlich mit dem Gefühl, eine prähistorische Bestie sei ins Zelt gekrochen und wolle mir ein Leid antun. Ich nahm den nächstgelegenen festen Gegenstand – zufälligerweise ein Wanderstiefel – und hieb auf das Untier ein, so fest ich konnte. Natürlich war es Constant. Ich fragte, ob ich ihn aufgeweckt hätte. Wenn er das geantwortet hat, was ich glaube, von ihm gehört zu haben, dann ist er nicht der Mann, für den ich ihn gehalten hatte. Nach sorgfältiger Überlegung entschied ich, dass ich mich wohl getäuscht hatte. Ich war gerade dabei, wieder einzuschlafen, als Constant einen wilden Schrei ausstieß und mich ins Ohr biss. Ich weckte ihn und erklärte ihm, dass es wohl sicherer sei, Kopf an Fuß zu schlafen. Er stimmte mit einigen seltsamen Bemerkungen zu, und ich drehte mich mit meinem Schlafsack um. In dieser Höhe macht das kurzatmig.
Dreimal musste ich innehalten, um Atem zu schöpfen, und als ich schließlich die halbe Umdrehung geschafft hatte,stellte ich fest, dass ich unterwegs mein Kopfkissen verloren hatte. Ich konnte mich aber nicht zum Suchen aufraffen und nahm einen Stiefel als Ersatz.
Ich war beinahe wieder eingeschlafen, als nur wenige Zentimeter von meinem Kopf entfernt schreckliche Geräusche ertönten. In panischer Angst schlug ich instinktiv um mich und hatte mich plötzlich an einem Mund festgeklammert. Es war fürchterlich. Nie werde ich den Schrecken und Ekel vergessen, den das bei mir auslöste. Später stellten wir fest, dass wir uns beide umgedreht hatten und immer noch Kopf neben Kopf schliefen. Constant erwachte plötzlich aus dem Albtraum, in den er durch meinen Griff nach seinem Mund gestürzt worden war, und warf sich auf mich. Von Schlaf und Schrecken noch ganz benommen, wehrte ich mich wie verrückt, und wir rangen durch das ganze Zelt
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