Die besten Crime-Stories.: Meistererzählungen der Queen of Crime
feierlich, ich werde Sie wieder Raoul nennen. Spielten wir nicht als Kinder zusammen?
Damals war das Leben noch freundlicher. Lassen Sie uns von der armen Annette sprechen - sie ist tot und begraben. Wo mag sie nur sein, ob im Fegefeuer oder wo, ich möchte es zu gern wissen.›
Und sie trällerte etwas von einem Lied, nicht sehr deutlich, aber die Worte ließen mich aufhorchen.
‹Felicie›, rief ich aus. ‹Sie sprechen Italienisch?›
‹Warum denn nicht, Raoul? Ich bin gar nicht so dumm, wie ich immer tue.› Sie lachte über meine Verwunderung.
‹Ich verstehe nicht -›
‹Dann will ich es Ihren erzählen. Ich bin eine sehr gute Schauspielerin, obwohl das niemand vermutet. Ich kann viele Rollen spielen – und ich spiele sie gut› Wieder lachte sie und lief rasch aus dem Zimmer, bevor ich sie aufhalten konnte.
Ehe ich abfuhr, sah ich sie wieder. Sie war in einem großen Sessel eingeschlafen. Sie schnarchte laut. Ich blieb stehen und beobachtete sie, fasziniert, doch innerlich abgestoßen.
Plötzlich wachte sie auf und fuhr hoch. Ihr Blick, stumpf und leblos, traf den meinen.
‹Monsieur Raoul›, stammelte sie mechanisch.
‹Ja, Felicie, ich muß jetzt gehen. Möchten Sie mir nicht noch einmal etwas vorspielen, bevor ich gehe?›
‹Ich? Spielen? Sie machen sich über mich lustig, Monsieur Raoul.›
‹Aber Sie haben mir doch heute morgen etwas vorgespielt. Erinnern Sie sich nicht mehr?› Sie schüttelte den Kopf
‹Ich, gespielt? Wie kann ein armes Mädchen wie ich Klavier spielen?› Sie hielt einen Moment inne, als ob sie über etwas nachdächte. Dann winkte sie mich näher zu sich heran.
‹Monsieur Raoul, hier in diesem Haus geschehen merkwürdige Dinge. Sie denken sich Betrügereien und üble Scherze aus. Sie verstellen ihre Uhren. Ja, ja, ich weiß genau, was ich sage. Und alles ist ihr Werk?›
‹Wessen Werk?› fragte ich verblüfft.
‹Das von Annette – dieser bösen Hexe! Als sie noch lebte, hat sie mich immer gequält Jetzt, da sie tot ist, kommt sie von den Toten zurück, um mich zu quälen. Sie war schlecht, durch und durch schlecht, glauben Sie mir!›
Ich starrte Felicie an und konnte sehen, daß sie entsetzliche Angst hatte. Ihre Augen traten aus dem Kopf hervor.
‹Sie war schlecht. Sie würde Ihnen das Brot vom Mund wegreißen und die Kleider vom Körper – und die Seele aus dem Leib...›
Sie preßte mich plötzlich an sich.
‹Ich habe Angst, hören Sie Angst! Ich höre ihre Stimme, nicht in meinen Ohren – nein, hier in meinem Kopf!› Sie tippte sich an die Stirn. ‹Sie will mich aus mir selber vertreiben - mich ganz aus mir selber vertreiben, was soll dann aus mir werden?› Ihre Stimme hatte sich fast zum Schreien erhoben. Aus ihren Augen starrte die animalische Angst eines todwunden, Tieres... Plötzlich lächelte sie, ein freundliches Lächeln voller Schlauheit, aber etwas war an diesem Lächeln, das mich erschauern ließ
‹Wenn es einmal soweit kommt... Ich bin sehr stark mit den Händen – ich habe sehr starke Hände...›
Ich hatte niemals vorher mit Bewußtsein ihre Hände angesehen. Ich sah sie jetzt an und erschrak gegen meinen Willen. Untersetzte, gedrungene, brutale Hände und – wie Felicie gesagt hatte – ungewöhnlich... Ich kann Ihnen die Übelkeit nicht beschreiben, die ich empfand. Mit Händen wie diesen mußte ihr Vater ihre Mutter erwürgt haben... Das war das letzte Mal, daß ich Felicie sah.
Anschließend mußte ich nach Südamerika fahren. Ich kehrte erst zwei Jahre nach ihrem Tod wieder zurück. Ich hatte in den Zeitungen über ihr Leben und von ihrem plötzlichen Tod gelesen. Dann habe ich noch einige Einzelheiten mehr erfahren – heute abend, von Ihnen, meine Herren. Felicie 3 und Felicie 4, wie Sie sagten. Sie war eine gute Schauspielerin, wissen Sie.»
Der Zug verlor langsam an Geschwindigkeit. Der Mann in der Ecke setzte sich aufrecht und knöpfte seinen Mantel zu.
«Was ist Ihre Theorie dazu?» fragte der Rechtsanwalt und beugte sich vor.
«Ich kann kaum glauben – », begann der Domherr Parfitt und hielt inne.
Der Arzt sagte nichts. Er starrte unverwandt auf Raoul Letardeau.
«Die Kleider von ihrem Körper – und die Seele aus ihrem Leib...», wiederholte der Franzose leichthin. Er stand auf. «Ich sage Ihnen, Messieurs, die Geschichte von Felicie Bault ist die Geschichte von Annette Ravel. Sie kannten sie nicht, Gentlemen. Ich kannte sie. Sie liebte das Leben allzu sehr...»
Er hatte schon den Türgriff in der
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