Die besten Crime-Stories.: Meistererzählungen der Queen of Crime
sie tödlich, aber sie konnte Annette nicht mehr verlassen. Sie lief Annette überall nach wie ein Hund. Tja, meine Herren, bald darauf nahm ich meine erste Stellung an. Ich besuchte das Heim nur noch während meiner Ferien. Annettes Wunsch, Tänzerin zu werden, war nicht ernst zu nehmen gewesen, aber als sie älter wurde, entwickelte sie eine hübsche Singstimme, und Miss Slater erklärte sich damit einverstanden, ihr Gesangsstunden geben zu lassen.
Annette war nicht faul. Sie arbeitete fieberhaft, ohne sich Ruhe zu gönnen. Miss Slater mußte sie manchmal davon abhalten, sich zu überanstrengen. Einmal sprach sie mit mir über Annette.
‹Du hast Annette doch immer gern gemocht. Rede auf sie ein, daß sie nicht zuviel arbeitet.
Neulich hatte sie einen Husten, der mir gar nicht gefiel.› Durch meine Arbeit mußte ich bald darauf weit fortfahren. Zuerst erhielt ich noch ein oder zwei Briefe von Annette, dann folgte Schweigen. Dann war ich fünf Jahre in Amerika.
Durch Zufall kam ich danach wieder nach Paris. Ich las ein Plakat, das eine Annette Ravelli ankündigte. Es war auch ein Bild der Dame darauf abgebildet. Ich erkannte sie sofort wieder.
Am Abend ging ich in das bezeichnete Theater. Annette sang in französischer und italienischer Sprache. Auf der Bühne war sie großartig. Nachher ging ich in ihre Garderobe.
Sie empfing mich sofort.
‹Oh, Raoul!› rief sie aus und streckte mir ihre weißen Hände entgegen. ‹Das ist wunderbar.
Wo bist du in all den Jahren gewesen?›
Ich erzählte es ihr, aber sie schien nicht richtig zuzuhören.
‹Siehst du, jetzt habe ich es fast erreicht.›
Triumphierend wies sie auf ihre Garderobe, die voll von Blumen war.
‹Die gute Miss Slater muß sehr stolz sein auf deinen Erfolg.›
‹Die Alte? Nein, überhaupt nicht Sie wollte doch, daß ich aufs Konservatorium gehe, weißt du nicht mehr? Ich sollte Konzertsängerin werden. Aber ich bin eine Künstlerin. Hier auf der Varietebühne kann ich mich am besten verwirklichen.› In dem Moment trat ein gutaussehender Mann im besten Alter ein. Sein Benehmen war vornehm und wohlerzogen. Bald entnahm ich seinen Gesprächen, daß er Annettes Manager war. Er sah zu mir hin, und Annette erklärte ihm, daß ich ein Freund aus ihrer Kinderzeit und gerade in Paris sei, hier ihr Bild auf dem Plakat gesehen hätte.
Daraufhin war der Herr sehr leutselig und freundlich zu mir. In meiner Gegenwart holte er ein Brillantarmband hervor und legte es um Annettes Handgelenk. Als ich mich erhob, um fortzugehen, wandte sie sich mir mit einem triumphierenden Blick zu.
Aber als ich ihre Garderobe verließ, hörte ich ihren Husten, einen scharfen, trockenen Husten. Ich wußte, was dieser Husten bedeutete. Er war das Erbe ihrer tuberkulösen Mutter.
Zwei Jahre darauf sah ich sie wieder. Sie hatte bei Miss Slater Zuflucht gesucht. Ihre Karriere war beendet. Ihre Krankheit war weit fortgeschritten, und die Ärzte sagten, daß man nichts mehr tun könne.
Ach, ich werde niemals vergessen, wie ich sie sah. Sie lag an einem geschützten Platz im Garten. Man hielt sie Tag und Nacht draußen. Ihre Wangen waren hohl und gerötet, ihre Augen glänzten fiebrig, und sie hustete sehr viel. Sie begrüßte mich mit einer Verzweiflung, die mich verblüffte.
‹Es tut gut, dich zu sehen, Raoul. Du weißt, was sie sagen – daß es mit mir zu Ende geht Sie sagen es hinter meinem Rücken, verstehst du? Wenn sie mit mir sprechen, sind sie zuversichtlich und trösten mich. Aber es ist nicht wahr, Raoul, es ist nicht wahr! Ich werde mir selbst nicht erlauben, zu sterben. Sterben? Jetzt, wo ein schönes Leben vor mir liegt. Es ist der Wille zu leben, darauf kommt es an. Das sagen alle berühmten Ärzte von heute. Ich gehöre nicht zu den
Schwachen, die sich gehenlassen. Ich fühle mich schon viel besser – sehr viel besser, hörst du!›
Sie richtete sich auf und stützte sich auf die Ellbogen, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, dann fiel sie zurück, von heftigem Husten geschüttelt, der ihren ausgezehrten dünnen Körper hin und her warf.
‹Der Husten – das ist nichts›, japste sie. ‹Und die Blutstürze erschrecken mich nicht. Ich werde die Ärzte überraschen. Es ist der Wille, auf den es ankommt Denk daran, Raoul, ich werde leben.›
Es war entsetzlich, erbarmungswürdig, verstehen Sie?
Da kam Felicie Bault mit einem Tablett heraus, mit einem Glas heißer Milch. Sie reichte es Annette und sah ihr beim Trinken mit einem unergründlichen
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