Die besten Crime-Stories.: Meistererzählungen der Queen of Crime
kindliche Stimme hatte das geflüstert.
«Mein Kind!» schrie Madame Exe. «Mein Kind!»
Sie erhob sich von ihrem Stuhl.
«Seien Sie vorsichtig, Madame», warnte Raoul.
Zögernd trat die Erscheinung durch den Vorhang hindurch. Es war ein Kind. Es stand da und streckte die Arme aus.
«Mama!»
«Madame!» schrie Raoul entsetzt. «Das Medium...»
«Ich muß es anfassen», keuchte Madame Exe.
Sie machte einen Schritt nach vorn.
«Um Gottes willen, Madame, beherrschen Sie sich!» schrie Raoul. Jetzt begann ihn Panik zu ergreifen. «Setzen Sie sich sofort wieder hin.»
«Mein Kleines, ich muß sie berühren.»
«Madame, ich befehle Ihnen, setzen Sie sich!»
Er riß und zerrte an seinen Fessel. Aber Madame Exe hatte gute Arbeit geleistet, er war hilflos. Die schreckliche Vorahnung von etwas Grauenhaftem überkam ihn.
«Im Namen Gottes, Madame, setzen Sie sich!» brüllte er. «Denken Sie an das Medium.»
Madame Exe hatte keine Ohren für ihn. Sie war wie verwandelt Ekstase und Entzücken spiegelten sich auf ihrem Gesicht. Ihre ausgestreckte Hand berührte das kleine Gesicht, das im Spalt des Vorhangs stand. Ein schreckliches Stöhnen kam von dem Medium.
«Mein Gott!» schrie Raoul. «Mein Gott! Das ist ja grauenhaft. Das Medium...»
Madame Exe wandte sich ihm mit hartem Lachen zu.
«Was geht mich Ihr Medium an?» schrie sie. «Ich will mein Kind.»
«Sie sind wahnsinnig!»
«Es ist mein Kind. Hören Sie. Mein eigenes Fleisch und Blut! Mein Kleines, komm zurück zu mir, komm zu deiner Mama.»
Raoul öffnete den Mund, aber er brachte keinen Laut hervor. Die Lippen des Kindes öffneten sich, und wieder hörte man das Wort: «Mama!»
«Dann komm, mein Kleines, komm!» schrie Madame Exe.
Und mit einer heftigen Bewegung riß sie das Kind in ihre Arme. Hinter dem Vorhang hörte man den langgezogenen Schrei grenzenloser Angst.
«Simone!» schrie Raoul. «Simone!»
Er bemerkte nur am Rande, daß Madame Exe an ihm vorbeihastete, daß sie die Tür aufschloß. Dann hörte er Schritte, die sich immer weiter entfernten und die Treppen hinunterliefen.
Vom Vorhang her drang ein schrecklicher langgezogener Schrei, ein Schrei, wie Raoul ihn vorher niemals gehört hatte. Er erstarb in einem entsetzlichen Röcheln.. Dann hörte man den dumpfen Aufschlag eines Körpers.
Raoul arbeitete wie ein Wahnsinniger, um sich von seinen Fesseln zu befreien. In seiner Todesangst vollbrachte er das Unmögliche: er zerriß die Schnur. Als er auf die Füße sprang, stürzte Elise herein.
«Madame!»
«Simone!» schrie Raoul.
Zusammen stürzten sie zum Vorhang und rissen ihn zur Seite.
«Mein Gott», keuchte er. «Rot alles rot...»
Elises Stimme hinter ihm klang böse und zitternd.«Madame ist tot Es ist zu Ende. Aber sagen Sie doch, Monsieur, was ist geschehen? Warum ist Madame so zusammengeschrumpft - warum ist sie nur halb so groß? Was ist hier vorgefallen?»
«Ich weiß es nicht», stöhnte Raoul.
Seine Stimme wurde zu einem Kreischen.
«Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Aber ich glaube – ich werde wahnsinnig – Simone! Simone!»
Die Zigeunerin
Macfarlane hatte oft beobachtet, daß sein Freund Dickie Carpenter eine merkwürdige Abneigung gegenüber Zigeunern hatte. Den Grund dafür hatte er allerdings nie erfahren. Als jedoch Dickies Verlobung mit Esther Lawes gelöst wurde, existierte die Zurückhaltung, die zwischen den beiden Männern noch bestand, für einen kurzen Augenblick nicht mehr.
Macfarlane war mit Rachel, der jüngeren Schwester von Esther, seit ungefähr einem Jahr verlobt. Seit ihrer Kindheit kannte er die beiden Lawes -Töchter. In allen Dingen langsam und vorsichtig, hatte er sich widerwillig eingestanden, daß Rachels kindliches Gesicht und ihre ehrlichen braunen Augen einen zunehmenden Reiz auf ihn ausübten. Eine Schönheit wie Esther war sie nicht – O nein! Aber unsagbar wahrhaftiger und süßer. Durch Dickies Verlobung mit der älteren Schwester schien das Band zwischen den beiden Männern nun noch enger geworden zu sein.
Und jetzt, nach einigen kurzen Wochen, war diese Verlobung wieder gelöst, und Dickie, der arme Dickie, war ziemlich betroffen. Bisher war in seinem jungen Leben alles so glatt verlaufen. Seine Karriere in der Marine war ein guter Einfall gewesen; die Sehnsucht nach dem Meer war ihm angeboren. Irgendwie hatte er etwas von einem Wikinger an sich: Einfach und direkt war er, und gedankliche Spitzfindigkeiten waren bei ihm vergeudet. Er gehörte zu jenen jungen
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