Die besten Freunde meines Lebens - Roman
Schwester und deren Kinder, an die hundert Leute, denen sie noch nie begegnet war und die David, wie er schwor, seit seiner Taufe nicht mehr gesehen hatte, alle ihre gemeinsamen Freunde. Als nach der Unterschrift im Heiratsregister die Orgel wieder einsetzte, ging Nicci an Davids Arm langsam den Gang hinunter und fühlte mehr, als dass sie es sah, wie die Brautjungfern und Davids engste Familie aus den Bankreihen traten und ihnen folgten.
Seit Nicci um sechs Uhr morgens aufgewacht war, hatte sie sich geschworen, sie würde es nicht tun, würde sich nicht enttäuschen lassen. Doch instinktiv glitt ihr Blick im Vorbeigehen wie ein Scanner durch jede Reihe. Tastete jedes lächelnde Gesicht ab, ein Kaleidoskop aus Nasen und Augen, Zähnen und Haaren, Jung und Alt, schwarz und weiß, blond, rothaarig, brünett. Sie wusste, sie sollte es nicht tun, doch sie konnte nicht anders.
Es war, als würde sie in einer offenen Wunde herumstochern. Sie machte sich nicht länger vor, sie würde gar nicht Ausschau halten, sondern blickte suchend durch die Reihen voller lächelnder Menschen, an denen sie Arm in Arm mit David vorbeizog. Unter Hüten, aufgestecktem und offen herabfallendem Haar, sogar zwischen Blumen suchte sie, doch das Gesicht, das sie zu finden hoffte, war nicht da.
Es war kindisch, etwas anderes zu erwarten. Sehr wahrscheinlich hatte sie ihren Brief gar nicht erhalten. Die Kontaktperson von Safe Shelters hatte Nicci auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, als Nicci sie anrief und sie bat, ihr einen Kontakt mit Mitarbeiterinnen der Einrichtung zu vermitteln.
Nicci erhielt eine Telefonnummer.
Die erste Frau, mit der sie sprach, war noch nicht lange genug dabei und kannte weder Nicci noch ihre Mutter, doch die Frau, die später zurückrief, Sheila, erinnerte sich an sie. Sie freue sich, von ihr zu hören, sagte Sheila. Nicci sei eine »Erfolgsgeschichte«.
Je nachdem, wie man Erfolg definierte, hatte Nicci gedacht.
Leider konnte auch Sheila ihr nicht weiterhelfen. Lynda Websters letzte bekannte Adresse war zehn Jahre alt.
»Wir wissen nicht sicher, ob Ihre Mutter dort noch wohnt«, sagte Sheila. »Wir wissen nicht einmal …«
Schweigen drang durch die Leitung. Also beendete Nicci den Satz für sie. »Sie meinen, ob sie noch am Leben ist.«
Obwohl ihr gesunder Menschenverstand sie eine Närrin schalt, hatte Nicci mit einer Mischung aus Naivität und Willenskraft gehofft, ihre Mutter auf der Brautseite in der Kirche zu sehen. Das Kind in ihr, das seine Barbie in wilde, selbst genähte Outfits hüllte und an einem Ort lebte, wo Mütter unfehlbare Geschöpfe waren, die ihre Kinder liebten und sich um sie kümmerten und sie nie enttäuschten, hatte Nicci glauben lassen, ihre Mutter würde kommen, wenn sie nur alles richtig machte.
Niccis Brief würde sie erreichen oder sie würde die Anzeige lesen, die Davids Eltern in The Times und The Telegraph aufgegeben hatten (obwohl ihre Mutter nie etwas anderes als News of the World gelesen hatte). Und selbst wenn ihre Mutter weder den Brief bekommen oder die Anzeige gelesen hatte, so würde sie doch durch mütterliche Intuition wissen, dass ihre einzige Tochter heiraten wollte. Und sie würde sie finden.
Doch sie war nicht da.
Nicht in der Kirche, in einer hinteren Reihe verborgen.
Nicht draußen, hinter einem Busch oder einer Eibe auf dem üppig bewachsenen Friedhof neben der Kirche.
Nicci hatte geglaubt, sie könnte ihre Mutter kraft ihres Willens herbeirufen. Zum ersten Mal seit jenen schweren Zeiten hatte ihre Willenskraft sie erneut im Stich gelassen. Nicht zum ersten, aber zum letzten Mal hatte sie gegen jede Vernunft gehofft, ihre Mutter würde den Weg zu ihr finden.
Genug gehofft, dachte Nicci, als die Hochzeitsgesellschaft in das weiche Licht des späten Nachmittags hinausströmte. Es ist vorbei.
An dem Tag, als ihre Mutter die Einrichtung verlassen hatte und zum zweiten Mal zu Niccis Stiefvater zurückgekehrt war, hatte Nicci sie aus ihrem Leben ausradiert und noch am selben Nachmittag den Nachnamen ihres leib lichen Vaters angenommen. Heute war auch Nicci Gilbert von der Bildfläche verschwunden, sie hatte ihren Platz an Nicci Morrison übergeben und damit die Vergangenheit hinter sich gelassen.
»Glücklich?«, fragte David, sein Atem warm an ihrem Hals, sein Arm fest um ihre Mitte geschlungen.
Während Nicci abwesend den Anweisungen des Fotografen folgte, der die Gäste um das Hochzeitspaar herum gruppierte und Nicci und David um die Grabsteine zur
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