Die besten Freunde meines Lebens - Roman
liegt im Sterben. Dummerweise hat sie vorher nicht auf die Uhr geschaut.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen, dann hörte Lizzie, wie Karen etwas zu ihrem Mann sagte, gefolgt von einem Rascheln, als Karen aufstand und sich einen Morgenmantel überzog. Jenseits des Atlantiks schlug eine Tür zu.
»Wenn du mich anbrüllst, nützt das auch nichts«, fauchte Karen.
Lizzie konnte nicht anders. Sie beendete das Gespräch. Um sicherzugehen, drückte sie den Klingelton auf Lautlos. Als sie auf den Parkplatz von The Cedars einbog, befanden sich auf ihrem Handy zwei Anrufe in Abwesenheit und eine SMS von Karen: Herrgott, Lizzie, melde dich! Janet, die Pflegeheimleiterin empfing Lizzie in ihrem Büro.
»Danke, dass Sie so schnell gekommen sind«, sagte Janet. »Dr. Clifton erwartet Sie in der Privatstation. Wir möchten Sie bitten, Ihr Handy auszuschalten. Die technischen Apparate reagieren darauf sehr empfindlich.« Lizzie hatte das immer für ein Märchen gehalten, doch jetzt kam sie der Aufforderung nur allzu gerne nach.
So muss sich eine außerkörperliche Erfahrung anfühlen, dachte sie, während sie sich selbst dabei beobachtete, wie sie – eine pummelige rothaarige Frau mit Schmutzflecken an den Knien ihrer Jeans – hinter der stämmigen weißhaarigen Frau in marineblauem Rock und kurzärmeliger wei ßer Bluse durch den Gang eilte. An guten Tagen fand sie sich »für ihr Alter noch ganz gut erhalten«. An schlechten Tagen wie heute wäre »vom Leben gezeichnet« noch freundlich formuliert.
Sie war einfach nur fix und fertig.
Trotz Karens Protesten hatte Lizzie ihre Mutter auf die Privatstation verlegt, als das Standardpaket von The Cedars nicht mehr ausreichte. Statt sich mit dem Sozialamt herumzuschlagen oder nach einer günstigeren Einrichtung zu suchen, hatte Lizzie erneut die Einnahmen aus dem Verkauf ihres Elternhauses geplündert. Dennoch war sie, als sie die Tür zum Zimmer ihrer Mutter öffnete, überrascht über die vielen medizinischen Apparate.
»Wann ist sie …«, begann Lizzie.
»Ihre Mutter ist zwischen dem Frühstück und der Morgenvisite ins Koma gefallen. Also gegen zehn Uhr.«
Lizzie nickte. Nun war der Tag, den sie gefürchtet und in stillen Momenten heimlich herbeigesehnt hatte, endlich gekommen. Zum ersten Mal seit Monaten hatte ihre Mutter einen friedlichen Gesichtsausdruck. Die Angst und die Verwirrung, weil sie die sie umgebende Welt überhaupt nicht mehr verstand, waren verschwunden.
»Dr. Clifton wird mit Ihnen die Behandlungsoptionen besprechen«, sagte Janet und ging aus dem Zimmer.
Ging Janet so etwas zu Herzen?, fragte sich Lizzie. Oder war das für sie reine Routine?
»Hallo«, sagte Dr. Clifton und schüttelte Lizzie die Hand. Seine Miene war besorgt. Mit einem erstarrten Lächeln im Gesicht sah Lizzie, wie sich sein Mund bewegte, und hörte, wie seine Stimme in einem sinnlosen Bla, bla, bla in ihr widerhallte. Aus dem wenigen, was sie verstand, schloss sie, dass es egal war, welche Maßnahmen er ergriff. Es würde alles auf dasselbe Ergebnis hinauslaufen.
»Gibt es keine Chance, dass sie aus dem Koma wieder erwacht?«, fragte Lizzie mit zitternder Stimme wie ein Kind, das Angst hat, ein totes Haustier zu begraben, weil es vielleicht nicht wirklich tot war.
»Das kann man so nicht sagen«, erwiderte Dr. Clifton. »Im Moment erhält sie eine Kochsalzinfusion, und wir überwachen ihre Vitalfunktionen. Wir können nicht mehr tun, außer abzuwarten …«
»Falls Mum aus dem Koma erwachen sollte«, sagte Lizzie, »welche Folgen hätte das?«
» Falls Ihre Mutter das Bewusstsein wiedererlangt – und das ist angesichts ihrer fortgeschrittenen Erkrankung mit einem dicken Fragezeichen zu versehen –, wird ihr Zustand womöglich schlechter sein als davor. Jedenfalls wird er ganz sicher nicht besser sein.«
Lizzie blieb zwei Stunden in The Cedars. Zwei Stunden, in denen sie Dokumente unterzeichnete, viel nickte, höflich irgendwelchen Worten lauschte, die nicht zu ihr durchdrangen, und nichts von dem verstand, was um sie herum pas sierte. Außer dass ihre Mutter im Koma lag und wahrschein lich nie mehr daraus erwachen würde. Und dass Mum zum ersten Mal friedlich wirkte. Ein Gedanke, an den Lizzie sich klammerte.
Die Stirn auf das Lenkrad gelegt, lauschte sie den fernen Geräuschen eines typischen Sonntagnachmittags und versuchte, sich zu sammeln. Hätte sie länger bleiben sollen? Würde ihre Mutter tief in ihrem Inneren wissen, dass es Lizzie gewesen war,
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