Die besten Freunde meines Lebens - Roman
leid. Was war das für ein armseliges Leben, wenn sie nicht einmal eine Woche freinehmen konnte, um bei ihrer sterbenden Mutter zu sein, weil sie sonst für die Beerdigung keinen Urlaub mehr bekam?
In der schäbigen kleinen Gästetoilette – Magnolientapeten, keine Drucke – bespritzte sich Lizzie das Gesicht mit kaltem Wasser und trocknete es mit einem rauen Papierhandtuch aus dem Automaten ab. Sie bemühte sich, den Blick in den Spiegel zu vermeiden. So oder so, ihr gefiel schon lange nicht mehr, was sie im Spiegel sah.
»Morgen, Mum«, flüsterte sie, als sie in das Zimmer schlüpfte, in dem ihre sterbende Mutter lag. Neben dem Bett stand ein Überwachungsmonitor, der leise piepste.
»Na ja, eigentlich ist es noch nicht morgens«, fuhr Lizzie in jenem munteren Konversationston fort, den sie sich in den zwei Monaten, seit ihre Mutter ins Koma gefallen war, angewöhnt hatte. Lizzie war noch nie gut in Small Talk gewesen. Zumindest das hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Doch seit Neuestem war sie Expertin darin geworden, endlos zu reden und nichts zu sagen. Sie hoffte nur, dass sie ihre Mutter mit ihrem belanglosen Geschnatter über die Arbeit, das Wetter und Prominentenklatsch nicht allzu schlimm genervt hatte. Wäre es nicht typisch, wenn Lizzie für ihre Mutter sogar auf deren Totenbett eine Enttäuschung wäre?
»Wir ziehen die Vorhänge auf, okay?«, sagte Lizzie. »Dann können wir den Sonnenaufgang sehen.«
Es gab keinen Sonnenaufgang, dafür war es zu früh. Und selbst wenn, die Sonne wäre durch den dichten Herbstnebel, der The Cedars und die umliegenden Bäume umhüllte, nicht zu sehen gewesen. Also setzte sich Lizzie in den Sessel neben dem Bett, hielt die fragile Hand ihrer Mutter und redete über Nebel und Bäume und wie eisig es selbst für November war.
Sie hatte geglaubt, wenn es so weit wäre, würde sich etwas verändern. Eine Präsenz oder Abwesenheit im Raum. Vielleicht würde die Atmosphäre elektrisch geladen sein oder die Luft stillstehen. Oder dass zumindest die Maschinen ein lautes Spektakel veranstalten würden und Ärzte und Schwestern angelaufen kämen. Doch nichts von allem geschah. Nicht einmal ein hörbares Ausatmen. Das Piepsen des Überwachungsmonitors ging einfach in einen Dauerton über, und die grüne Kurve verflachte sich zu einem Strich. Als Lizzie das Gesicht ihrer Mutter betrachtete, wusste sie, dass sie nun Waise war.
Sie wollte schon auf den Knopf drücken, um das Personal herbeizurufen, zögerte dann aber.
Draußen vor dem Fenster sickerte ein schwaches gelbes Licht durch den Nebel, das den Tagesanbruch verkündete. Von der M23 drang das Rauschen des morgendlichen Pendlerverkehrs herüber. Was nun?, dachte Lizzie verzagt. Was nun, da sie sich nicht mehr hinter einer kranken Mutter verstecken konnte?
»Und wie lange wird Karen bleiben?«, fragte Gerry, ohne von seiner Zeitung aufzublicken.
»So kurz wie möglich, nehme ich an.« Lustlos rührte Lizzie in ihrem Müsli herum. »Sie kommt übermorgen an und wird wahrscheinlich nach der Bestattung sofort wieder verschwinden.«
»Das sind nicht einmal zwei Tage.« Unwillig raschelte Gerry mit seiner Zeitung. »Und was ist mit dem ganzen Kram, der erledigt werden muss?«
»Welcher Kram?«, erwiderte Lizzie gleichgültig. »Für die Beisetzung ist alles arrangiert. Wir haben das telefonisch abgesprochen. Ich habe alle Leute angerufen, die mir eingefallen sind. Der Anwalt, der sich um den Verkauf von Mums Haus gekümmert hat, wird den Nachlass feststellen. Und das Haus muss auch nicht ausgeräumt werden, weil ich das bereits vor drei Jahren gemacht habe.«
Mehr war nicht zu tun. Die achtundsechzig Jahre, die ihre Mutter gelebt hatte, lösten sich mit einigen Telefonanrufen und ein wenig Papierkram in nichts auf.
»… sollten wir sprechen«, sagte Gerry.
Lizzie fuhr hoch. Sie war völlig abwesend gewesen. In letzter Zeit geschah das häufig. »Worüber?«
»Über das Testament. Ich habe nachgedacht.«
»Gerry!«
»Ach, komm schon, Liz. Die Bestattung, die Testaments eröffnung, und danach sind wir durch. Tu nicht so, als wäre es keine Erleichterung, dass diese ganze Sache nun vorbei ist.«
Lizzie starrte in ihr Müsli. Die Flocken hatten sich schmutzig-braun in der Milch aufgelöst. Gerry hatte recht, es war eine Erleichterung. Ihr gefiel nur die Art nicht, wie er das ständig betonte. Als sie ihn vom Pflegeheim aus anrief und ihm mitteilte, es sei vorbei, hatte er gesagt: »Gott sei Dank.« Das hatte er
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