Die besten Freunde meines Lebens - Roman
Brosche direkt in die kalte graue See werfen. Doch sie hatte sie wieder in die Tasche gesteckt, als wäre sie zu dem Entschluss gelangt, die Brosche sei nicht einmal diese kleine Anstrengung wert. Auf dem Rückweg zu seiner Wohnung hatte sie die Brosche dann in einen Mülleimer fallen lassen, ganz verstohlen, aber er hatte es trotzdem bemerkt. Von einem anderen Liebhaber, hatte er gedacht. Bis heute.
Als David weiterhin schwieg, seufzte die Frau.
»Der Grund, weshalb ich anrufe …«, sie hielt inne, als suchte sie nach den richtigen Worten, »… ich dachte … Ich würde gern meine Enkelkinder kennenlernen.«
»Ihre Enkelkinder?«
»Wenn Sie nichts dagegen haben. Ich meine, natür lich verstehe ich, dass Sie darüber erst einmal nachdenken müssen.«
Irgendwie hatte er von der ersten Sekunde an, als die Frau sich vorstellte, genau das erwartet. Aber nun, da sie mit der Sprache herausrückte, konnte er seine Wut kaum zügeln. Wenn er nichts dagegen hatte? Verdammt, und ob er etwas dagegen hatte! Und vor allem hätte Nicci etwas dagegen.
Hätte Nicci gewollt, dass Harrie und Charlie ihre Großmutter kennenlernen, dann hätte sie das schon vor langer Zeit in die Wege geleitet.
»Oh, nicht sofort«, lenkte die Frau rasch ein, als spürte sie, was in ihm vorging. »Das würde ich niemals von Ihnen verlangen. Ich dachte, wir beide könnten uns vielleicht treffen, auf einen Kaffee oder so. Dann können Sie sich davon überzeugen, dass ich kein zweiköpfiges Ungeheuer bin. Oder was immer Nicci Ihnen sonst über mich erzählt haben mag.«
»Sie haben es anscheinend nicht begriffen«, erwiderte David kalt. »Nicci hat mir niemals irgendetwas über Sie erzählt.«
Nachdem er zum dritten Mal an diesem Abend aufgelegt hatte, rief Niccis Mutter nicht mehr an. Oder vielleicht doch, aber David wollte es gar nicht wissen. Er hatte vorsorglich den Stecker herausgezogen, sich einen weiteren Brandy eingeschenkt und war damit ins Schlafzimmer gegangen. Jetzt saß er auf der Bettkante, und das Glas Brandy war längst leer.
Das Schlafzimmer wurde nur vom orangefarbenen Schein der Straßenlaternen erhellt, der durch die offenen Vorhänge hereindrang, und vom Glühen der Nachtlichter aus dem angrenzenden Kinderzimmer. David brauchte kein zusätzliches Licht, um das Foto sehen zu können, das er in den Händen hielt. Seit er den Hörer aufgelegt hatte, hatte er das Foto so gründlich betrachtet, dass sich das Bild in sein Gehirn eingegraben hatte.
Sieben Wochen war Nicci nun tot. Sieben Wochen, zwei Tage und einundzwanzig Stunden. Und jetzt wusste er bereits mehr über sie als in den ganzen sechzehn Jahren, die sie miteinander verbracht hatten.
Das viereckige Bild lag auf seiner Handfläche, die Ecken vom vielen Gebrauch leicht nach oben gewellt. Es war ein Polaroidfoto; der weiße Rand war vom Tageslicht vergilbt, das Bild selbst leicht verblasst.
Ein Schniefen ertönte durch das Babyphone, als Charlie – oder war es Harrie? – sich im Schlaf umdrehte. Nicci hatte das Babyphone vor einem Jahr für überflüssig erklärt, doch nach ihrem Tod hatte David es wieder installiert. Er fand es tröstlich. Das tiefe, langsame Atmen seiner Töchter half ihm, die Nächte zu überstehen.
Das Foto hatte die ganzen Jahre über in Niccis Nachtkästchen gelegen.
Er hatte es vor zwei Wochen gefunden, als er ihre übrig gebliebenen Medikamente eingesammelt und in die Klinik gebracht hatte, da er den Anblick nicht mehr ertragen konnte. Es hatte ganz unten in der Schublade gelegen, als Lesezeichen in einer der von Krebskranken verfassten Autobiografien, die ihre Hauptlektüre geworden waren. Jetzt befanden sich die Bücher in einer Tüte unter der Treppe und warteten darauf, zu einem Oxfam-Laden gebracht zu werden. David wusste nur deshalb, wer sich neben Nicci auf dem Bild befand, weil auf der Rückseite in unbekannter Handschrift zwei Namen standen.
Lynda und Nicola.
Es war ein typisches Siebzigerjahre-Foto; Niccis Mum, ganz Suzi-Quatro-Mähne und Schlaghose, stand neben einem kleinen Mädchen – vielleicht drei, vier Jahre alt –, das misstrauisch in die Kamera blinzelte. Rotes Gingham-Kleid mit gebauschtem Rock, darunter dünne Beinchen, weiße Söckchen und rote Schnallenschuhe. Das Mädchen stand halb auf, halb neben einem blauen Dreirad mit gelbem Sitz und Lenkstange.
Hätte er schon früher von dem Foto gewusst, hätte er Nicci danach fragen können. Nur hätte Nicci ihm nichts darüber erzählt. Doch jetzt kannte er
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