Die besten Freunde meines Lebens - Roman
und wegziehen? Oh, er hatte diese Möglichkeit durchaus in Erwägung gezogen. Doch es war nicht so leicht, alles zusammenzupacken und zu verschwinden, wenn man die Verantwortung für Kinder und ein Architekturbüro hatte.
»David? David Morrison?« Ihre Stimme war tiefer als die von Nicci. Aus der Nähe wirkte sie größer; ihre kleinen faltigen Hände waren braun und ringlos, ihr Handschlag fest, doch ihre Handfläche fühlte sich rau an. Falls sie nervös war, so verbarg sie das gut. »Ich bin Lynda.«
Er erhob sich, worauf sie sofort wieder auf ihre richtige Größe zusammenschrumpfte. »Hallo, Mrs. Webster«, sagte er. »Am besten hole ich Ihnen erst einmal etwas zu trinken.«
Bis er mit ihrer Bestellung – der starke Tee mit Milch und das Sandwich mit Käse und Pickles hätten nicht unters chiedlicher sein können als das, was Nicci bestellt hätte – zurückkehrte, war die Welt wieder fest in ihren Fugen. Unsicher auf der Stuhlkante sitzend, ohne Mantel und Tasche als Schutz, verkörperte Niccis Mutter genau das, was sie war: eine Frau in den Sechzigern, gekleidet in einen marineblauen Pullover, unmoderne Jeans und solide knöchelhohe Stiefel.
»Essen Sie denn nichts?«, fragte sie besorgt, als er ihr Sandwich und zwei Tassen auf den Tisch stellte.
»Ein Panini«, sagte er. »Es wird noch überbacken.«
»Ah.« Sie nickte, nahm einen Schluck ihres viel zu heißen Tees und zuckte zusammen. Das Klappern der Tassen und des Bestecks, die laut gerufenen Bestellungen und das Stimmengewirr übertönten die aus den Lautsprechern drin gende Musikberieselung. Arbeitskollegen lästerten über ihre Chefs; alte Freunde trafen sich; frisch Verliebte sahen sich in die Augen und ließen ihr Essen unangetastet stehen; alte Liebespaare kauten stoisch vor sich hin und lasen in mehr oder weniger einvernehmlichem Schweigen Bücher oder Zeitungen.
»Ich bin so …«
»Ich …«
Beide entschlossen sich gleichzeitig, das Schweigen zu brechen.
»Sie zuerst.«
»Nein, Sie.«
David nahm einen Schluck Latte macchiato und wartete ab. Niccis Mutter nippte erneut an ihrem heißen Tee und atmete dann tief durch. »Danke«, sagte sie, ihre Tasse wie einen Rettungsanker umklammernd, »dass Sie eingewilligt haben, mich zu treffen.«
»Offen gestanden ließen Sie mir kaum eine andere Wahl.«
Sie sah ihn an.
»Hätte ich etwa zur Polizei gehen und Sie wegen Belästigung anzeigen sollen? Und glauben Sie mir, mit diesem Gedanken habe ich tatsächlich gespielt.«
Ihre Hände zitterten. Er fragte sich, ob sie rauchte, und kam zu dem Schluss, dass dies der Fall sein musste. Aus der Nähe betrachtet hatte sie die Haut einer Raucherin; die kleinen Falten um ihren verkniffenen Mund mussten von jahrelangem Saugen an Zigaretten stammen.
»Ich war ihre Mutter.«
»Das haben Sie gesagt.«
Sollte er nach einem Beweis fragen?, überlegte David. Doch wozu? Die Ähnlichkeit ließ sich nicht von der Hand weisen.
In seiner Familie war Nicci diejenige gewesen, die Entscheidungen traf. Aber Nicci war tot, war bereits seit drei Monaten tot. Und so sehr er es sich auch wünschte, sie würde nicht zurückkommen. Er musste jetzt sein eigenes Leben leben.
Selbstsicherer, als er sich fühlte, lächelte David der Fremd-Vertrauten auf der anderen Seite des Tisches zu und nahm sein iPhone aus der Innentasche. Er öffnete die Fotogalerie und schob Lynda das iPhone über den Tisch hinweg zu.
Verständnislos sah Lynda ihn an.
»Fotos«, sagte er freundlich. »Sie wollen doch sicher wissen, wie meine Töchter aussehen, oder?«
Einen schrecklichen Moment lang dachte er, Lynda würde zu weinen beginnen. Er wurde mit fast allem fertig – in diesen letzten neun, zehn Monaten war er selbst überrascht gewesen, womit er alles fertigwurde –, doch er war sich nicht sicher, ob er damit zurechtkäme, eine ältere Frau in einem gefüllten Café zum Weinen zu bringen.
»Die beiden …«, Lynda schluckte, »… sie sind Nicci so ähnlich.«
David nickte, sagte jedoch nichts. Er wollte der Frau nicht von dem Foto im Nachtkästchen erzählen. Dem Foto, das es eigentlich nicht geben sollte.
»Ich habe auch etwas für Sie.« Die Frau zog einen verblichenen Umschlag aus ihrer Tasche und kippte den Inhalt über dem Tisch aus. »Sehen Sie nur, wie ähnlich sie Nicci sind.«
Das Foto, das sie ihm als Erstes reichte, war beinahe identisch mit jenem, das er bereits kannte, vielleicht das nächste Bild in der Reihe, aber dieselbe Frau und dasselbe Mädchen, in
Weitere Kostenlose Bücher