Die besten Freunde meines Lebens - Roman
früh um sechs wieder losstarten müsste.
Den gemütlichen Abend konnte sie sich wohl abschminken.
»Die Leute erkannten einfach nicht, wie revolutionär Chanels Entwürfe waren«, fuhr Nicci fort. »Es war nicht nur die 2.55. Eure gesamte Garderobe habt ihr Chanel zu verdanken.«
Jo wollte schon einwenden, dass die revolutionäre Coco bestimmt nichts mit dem kümmerlichen Inhalt ihres Kleiderschranks zu tun haben wollte, verkniff es sich aber.
»Bevor Chanel das kleine Schwarze erfand, waren die Frauen auf komplizierte Gewänder beschränkt, die nur mit schmerzhaften Korsetts zu tragen waren. Und Hosen! Chanel hat für Frauen das Tragen von Hosen salonfähig gemacht.«
»Diese Tasche«, fuhr Nicci fort, »ist eine radikale Erfin dung. Streck die Hände aus«, sagte sie zu Jo. »Ich meine beide Hände, flach«, fügte sie hinzu, als Jo zögernd eine Hand ausstreckte.
Behutsam, als wäre es ein Baby, legte sie die Tasche auf Jos Hände.
Jo konnte Lizzie nicht ansehen. Sonst würden sie beide vor Lachen am Boden liegen. Jo wünschte, David wäre hier. David spottete nie, wenn Nicci sich über die gesellschaftliche Bedeu tung von Mode ausließ. Sie konnte stundenlang darüber reden, dass Mode, entgegen dem äußeren Anschein, nicht nur irgend eine Art von Bekleidung war. Mode war Kunst. Geschichte. Kultur. Und David lachte nie, wenn sie so etwas sagte.
Für Nicci war Kleidung niemals »nur Kleidung«. Für sie besaß Mode dieselbe historische Bedeutung wie Architektur oder Literatur. Van Gogh, Charles Renni Mackintosh, Chanel, Austen – all diese Namen hatten für Nicci denselben Rang. Sie hatte es sogar geschafft, darüber ihre Magisterarbeit in englischer Literatur zu schreiben.
»In deinen Händen«, sagte Nicci feierlich, »hältst du ein kleines Stück, nein, ein großes Stück Geschichte. Das ist nicht nur eine Tasche. Es ist die Tasche. Meine Rente. Oder der erste Teil davon. Du solltest stolz auf mich sein, Jo. Schließlich liegst du mir ständig in den Ohren, dass wir uns fürs Alter absichern sollten.«
»Ähm, Nicci«, wandte Jo ein, »ich meinte eine richtige Rente. Ich habe dir immer gesagt, ich könnte dir einen Termin bei einem Finanzberater machen. Wenn du jetzt damit beginnst, in deine Rente zu investieren …«
Genervt verdrehte Nicci die Augen. »Zum neunhundertsten Mal, ich brauche keinen Finanzberater«, sagte sie. »Aber ich muss dich um einen Gefallen bitten …«
»Oh.« Unwillkürlich fragte sich Jo, ob Nicci ihr die Tasche nur übergeben hatte, um sie gefechtsunfähig zu machen.
Sie wog die Tasche in den Händen, fühlte ihr Gewicht und überlegte kurz, ob sie Nicci drohen sollte, ihr die Tasche an den Kopf zu werfen.
»Nein, nein, nichts Schlimmes«, fuhr Nicci fort. »Aber wie du sagtest, es sind fast drei Monatsmieten. Eher zweieinhalb. Zwei, wenn ich mich beim Essen einschränke. Du weißt ja: zu viel Pampe, fette Wampe.«
»Nicci, ich dachte, wir wären uns einig gewesen, dass …«
Jo fixierte Nicci, um sie daran zu erinnern, dass Lizzie hinter ihnen auf dem Sofa saß und ihren Körper mit den Armen verdeckte, während sie betont konzentriert in den Fernseher starrte. »Zu viel Pampe, fette Wampe« war Niccis Mantra an der Uni gewesen. Sie hatte immer so getan, als wollte sie damit ihr karges Studentenbudget tarnen, doch wie Jo insgeheim vermutete, war Nicci davon auch zutiefst überzeugt. Beide wussten sie freilich, dass Lizzie, die immer im Kampf mit ihren Pfunden lag, unter diesem flapsigen Ausspruch gelitten hatte.
»Zwei Monatsmieten«, wiederholte Nicci. »Das ist alles. Du verdienst zurzeit viel mehr als ich und könntest die Miete für mich auslegen. Nur für ein paar Monate. Die Hälfte habe ich bereits zusammengespart, und den Rest zahle ich dir zurück, sobald ich befördert werde, wenn nicht schon früher.«
»Herrgott, Nicci«, keuchte Jo, »du hast doch letzte Woche erst angefangen! Das kann Jahre dauern.«
»Ein Jahr höchstens. Sie haben mir schon gesagt, wenn ich mich gut mache, könnte ich mit einer Beförderung und einer saftigen Gehaltsaufbesserung rechnen.« Sie hielt inne. »Aber wenn du nicht möchtest, kann ich David darum bitten.«
Seufzend blickte Jo von Nicci zu der Tasche und wieder zu Nicci. Sie wusste, sie war die Langweilerin, die Buchhalterin, der Sicherheitsapostel. Die Person, der man seine sämtlichen Ersparnisse anvertrauen konnte. Nicci hatte die Ideen. Sie hatte Visionskraft und ein untrügliches Gespür dafür, was die Leute
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