Die Bestie im Menschen
die Wolfsschlucht beklagt, in die Niemand zu Besuch kam. Jetzt war mit einem Male ein ganzer Trupp aus dem unbekannten Lande angekommen. War es wohl zu glauben, daß kein Einziger dieser es so eilig habenden Leute eine Ahnung von diesem Gift hatte, das man ihr in das Salz gethan? Diese Raffinirtheit drückte ihr das Herz ab, sie fragte sich, ob Gott solch eine naseweise Verschmitztheit zulassen könne, ohne daß Jemand es bemerkte. Menschen genug zögen an ihr vorüber, tausende und abertausende. Aber alles das galoppirte davon, kein einziger würde geglaubt haben, daß man in diesem niedrigen Hause ganz nach Belieben, ohne jeden Lärm, einen Menschen tödtete. Und Tante Phasie sah einen nach dem andern von diesen aus dem Monde gefallenen Menschen an, sie meinte, daß es kein Wunder sei, an unsauberen Dingen vorüberzugehen und nichts wissen zu können, wenn man es so eilig hat.
»Kommt Ihr mit zurück?« fragte Misard Jacques.
»Ja,« erwiderte dieser, »ich folge Euch sofort.«
Misard ging und schloß die Thür. Phasie hatte die Hand des jungen Mannes ergriffen und sagte ihm in das Ohr:
»Sollte ich zusammenbrechen, dann sieh Dir sein Gesicht an, wenn er nichts findet … Das freut mich, wenn ich daran denke, deshalb werde ich auch zufrieden von dannen gehen.«
»Das Geld soll also für immer verloren sein, Tante Phasie? Sie werden es auch nicht Ihrer Tochter vermachen?«
»Flore? Damit er es ihr fortnimmt? O nein! … Nicht einmal Dir, mein großer Junge, weil auch Du zu dumm bist: er würde doch immer einen Theil von Dir erhalten … Nein, Niemandem, außer der Erde, in der es ruht!«
Sie war außer Athem. Jacques bettete sie wieder hin, beruhigte sie, umarmte sie und versprach, bald wieder zukommen. Als sie einzuschlummern schien, trat er hinter Séverine, die wieder am Ofen saß. Er legte lächelnd einen Finger an den Mund, als Mahnung, vorsichtig zu sein. Dann bog er lautlos und zärtlich ihren Kopf nach hinten, bot ihr seine Lippen, beugte sich über sie und schloß ihr mit einem tiefen, verstohlenen Kuß ihren Mund. Ihre Augen hatten sich geschlossen, sie saugten begierig ihren Athem ein. Doch als sie sie wieder, noch wie betäubt öffnete, stand Flore, die die Thür leise geöffnet hatte, hinter ihnen und fragte mit rauher Stimme:
»Bedürfen Sie etwas, Frau Roubaud?«
»Nein, nein, ich danke,« stotterte Séverine verwirrt und verlegen.
Jacques blickte Flore einen Augenblick mit flammenden Blicken an. Er zögerte, seine Lippen zitterten, als wollte er sprechen. Dann ging er mit einer sie bedrohenden Wuthgeberde. Mit einem Knall fiel hinter ihm die Thür in’s Schloß.
Flore mit ihrer hohen Büste einer kriegerischen Jungfrau und ihrer blonden schweren Haarkrone rührte sich nicht. Ihre Angst, diese Frau an jedem Freitag in dem von Jacques geführten Zuge zu erblicken, hatte sie also nicht getäuscht. Die von ihr gesuchte Gewißheit, seit sie Beide in ihrer Nähe hatte, war endlich, unwiderruflich gekommen: diese schmächtige Person, dieses Nichts von Frau, hatte er sich also erwählt. Noch immer peinigte sie der schmerzliche Gedanke, sich ihm in jener Nacht versagt zu haben. Sie hätte aufschluchzen mögen. Nach ihrem einfachen Gedankengange wäre sie es jetzt gewesen, die er umarmt, hätte sie sich ihm eher hingegeben wie Jene. O wäre sie ihm jetzt allein begegnet! Sie würde sich ihm an den Hals geworfen und ihm gesagt haben: »Da nimm mich, ich war thöricht gewesen, weil ich Dich nicht besser verstand!« In ihrer Ohnmacht stieg eine fürchterliche Wuth gegen dieses so zarte, genirte und verlegene Geschöpf in ihr auf. Wie einen Vogel hätte sie jene mit ihren harten kampfbereiten Armen erdrücken können. Warum wagte sie es nicht? Aber sie schwor, sich zu rächen, denn sie wußte Dinge von dieser Nebenbuhlerin, die genügt hätten, sie in das Gefängniß zu bringen, die man aber frei herumlaufen ließ wie alle Dirnen, die sich reichen und mächtigen Greisen verkaufen.Von Eifersucht gequält, vom Zorn übermannt raffte sie hastig mit den Geberden einer Wilden die Ueberbleibsel von Brod und Birnen zusammen und sagte:
»Da Madame genug haben, kann ich dies ja den Andern geben.«
Es schlug drei, es schlug vier Uhr. Die Zeit schleppte sich hin, das Gefühl der Abspannung und der Verlegenheit wuchs. Die Nacht senkte sich bleich auf die weiße, wüste Landschaft nieder. Alle zehn Minuten gingen die Männer hinaus, um von fern zu sehen, wie weit die Arbeit vorgeschritten war. Sie kehrten zurück
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