Die Bestie im Menschen
Signallicht am Bug der Locomotive durchbohrte die Finsterniß mit seiner hellleuchtenden Flamme. Sie sah ihn unter der Brücke verschwinden und die drei Schlußlaternen den Schnee blutig färben. Als sie sich umwandte, überlief sie abermals ein Frösteln: war sie wirklich allein? Sie hatte einen warmen Hauch in ihrem Nacken, eine brutale Berührung durch ihre Glieder auf ihrem Körper zu fühlen gemeint. Ihre sich vergrößernden Augen durchforschten abermals den Raum. Nein, es war Niemand da.
Warum zögerte Jacques nur so lange? Es verflossen weitere zehn Minuten. Ein leises Kratzen, das Streifen eines Fingernagels über das Holz beunruhigte sie plötzlich. Doch jetzt verstand sie, sie sollte öffnen. Er war es mit einer Flasche Malaga und einem Kuchen.
Sich schüttelnd vor Lachen, hing sie mit überquellender Zärtlichkeit an seinem Halse.
»O wie lieb, daß Du an mich gedacht!«
»Pst, pst,« machte er und winkte ihr lebhaft zu schweigen.
Sie senkte schnell ihre Stimme, denn sie glaubte, der Portier wäre hinter ihm her. Aber nein, auch er hatte Glück gehabt; er hatte gerade klingeln wollen, als sich die Thür öffnete und eine Dame nebst Tochter auf die Straße traten, die gewiß von den Dauvergne kamen. Er hatte also unbemerkt die Treppe passiren können. Nur auf dem obersten Flur hatte er durch eine etwas offen stehende Thür gesehen, daß die Zeitungverkäuferin in einer Wanne ihre kleine Wäsche besorgte.
»Wir wollen also keinen Lärm machen und ganz, ganz leise sprechen!«
Sie antwortete ihm mit einer leidenschaftlichen Umarmung und bedeckte sein Gesicht mit stummen Küssen. Es stimmte sie heiter, alles geheimnißvoll machen zu sollen und nur ganz verstohlen tuscheln zu dürfen.
»Sei unbesorgt, man soll von uns nicht mehr hören als von zwei kleinen Mäuschen.«
Vorsichtig machte sie den Tisch zurecht, zwei Teller, zwei Gläser und zwei Messer stellte sie darauf. Sie mußte gewaltsam das Lachen unterdrücken, als ein zu hastig hingesetzter Gegenstand klirrte.Er sah ihr ebenfalls belustigt zu und sagte leise:
»Ich habe mir gedacht, daß Du Hunger haben würdest.«
»O ich sterbe vor Hunger! Das Essen in Rouen war so schlecht!«
»Soll ich noch einmal heruntergehen und Dir ein Huhn holen?«
»O damit Du nicht wieder herauf kommst? … Nein, nein, ich werde von dem Kuchen satt.«
Sie setzten sich, Seite an Seite, fast auf einen Stuhl, der Kuchen wurde zerschnitten und unter verliebten Neckereien verzehrt. Sie klagte über Durst und trank Zug um Zug zwei Glas Malaga aus, was ihr vollends das Blut in die Wangen trieb. Der Ofen röthete sich, sie fühlten seinen glühenden Athem auf ihrem Rücken. Doch als er ihren Nacken mit zu geräuschvollen Küssen bedeckte, that sie ihm Einhalt.
»Pst, Pst!«
Sie gab ihm zu verstehen, daß er lauschen solle. Und durch die Stille hörten sie von den Dauvergne ein dumpfes, den Rhythmen der Musik sich anschließendes Gestampfe heraufschallen: die Fräulein hatten wahrscheinlich ein kleines Tanzvergnügen organisirt. Die Zeitungsverkäuferin von nebenan goß in das Wasserleitungsbecken auf dem Korridor das Seifenwasser aus. Sie schloß ihre Thür, der Tanz verstummte für einen Augenblick und man hörte nur noch tief unten, durch den Schnee gedämpft ein unbestimmtes Dröhnen, die Abfahrt eines Zuges, dessen schwaches Pfeifen einem Weinen glich.
»Der Zug nach Auteuil,« flüsterte er, »zehn Minuten vor Mitternacht.« Dann mehr hauchend als sprechend:
»Willst Du, Geliebte?«
Sie antwortete nicht. Die Vergangenheit drängte sich wieder in diesen Taumel des Glückes, gegen ihren Willen durchlebte sie jetzt noch einmal die mit ihrem Manne hier verbrachten Stunden. Setzte sich das Frühstück von ehedem nicht bei diesem Kuchen fort, den sie an demselben Tische, bei demselben Lärm verzehrten? Eine wachsende Aufregung lenkte sie immer mehr von anderen Dingen ab, immer heftiger drangen die Erinnerungen auf sie ein, noch nie zuvor hatte sie ein so brennendes Verlangen gefühlt, ihrem Geliebten alles zu sagen, sich ihm ganz auszuliefern. Das physischeVerlangen vermochte sie nicht mehr von dem sensuellen zu unterscheiden. Sie hoffte ihm noch mehr als zuvor anzugehören, die Freude an seinem Besitz noch viel mehr auszukosten, wenn sie in seinen Armen, an seinem Ohre ihm alles beichten würde. Die Geschehnisse waren wieder lebendig, ihr Mann war zur Stelle, sie wandte den Kopf zurück, weil sie sich einbildete, daß seine rauhe, gedrungene Hand über ihre Schulter
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