Die Bestie im Menschen
mit der Bemerkung, daß die Locomotive noch immer nicht freigeschaufelt sei. Selbst die beiden kleinen Engländerinnen begannen vor Entnervung zu weinen. In einer Ecke war die junge Frau an der Schulter des jungen Mannes aus Havre entschlummert, in der allgemeinen Niedergeschlagenheit rügte es ihr alter Mann nicht einmal als unschicklich. Das Zimmer kühlte aus, man fror, dachte aber nicht einmal daran, Holz aufzulegen, selbst der Amerikaner ging fort; er fand es jetzt angenehmer, sich auf das Polster seines Koupees auszustrecken. Es peinigte alle der Gedanke, daß es vielleicht doch besser gewesen wäre, in den Koupees zu bleiben, man hätte wenigstens alle Augenblicke gewußt, was vorging. Die Engländerin mußte zurückgehalten werden, auch sie sprach davon, in ihrem Koupee übernachten zu wollen. Als man ein Licht auf den Tisch gestellt, damit die Gesellschaft in der düstern Küche wenigstens sich sehen konnte, bemerkte man erst recht die allgemeine Entmuthigung, jeder starrte in stumpfsinniger Verzweiflung vor sich hin.
Auf dem Bahndamm nahte sich inzwischen die Schaufelei ihrem Ende. Die Soldaten hatten die Locomotive frei gemacht und reinigten jetzt die Geleise vor ihr, der Locomotivführer und der Heizer konnten sich wieder auf ihren Posten begeben.
Jacques faßte wieder Vertrauen, als er den Schnee nicht mehr fallen sah. Der Weichensteller Ozil hatte ihm versichert, daß jenseits des Tunnels, nach Malaunay zu, die gefallenen Massen nicht so beträchtliche seien. Er fragte ihn nochmals:
»Sie sind zu Fuß durch den Tunnel gekommen. Sie konnten also bequem hinein und bequem hinaus?«
»Wie ich Ihnen sagte. Sie werden ohne Aufenthalt passiren können, ich garantire es Ihnen.«
Cabuche hatte mit dem Eifer eines Riesen gearbeitet; furchtsam und verstört wich er zurück, seine letzten Begegnungen mit der Justiz hatten sein störrisches Wesen noch vermehrt. Jacques mußte ihn erst zu sich rufen.
»Bitte, Kamerad, reicht uns doch einmal unsere Schaufeln, die da an der Böschung, damit wir sie im Nothfall bei der Hand haben.«
Als ihm der Kärrner den Dienst geleistet, schüttelte Jacques ihm kräftig die Hand, um ihm dadurch seinen Dank für die wackre Arbeit und seine Achtung auszudrücken.
»Ihr seid ein braver Kerl!«
Cabuche rührte dieses freundschaftliche Lob außerordentlich.
»Danke,« sagte er nur und zerdrückte die Thränen, die ihm in den Augen standen.
Misard, der sich mit ihm wieder ausgesöhnt, nachdem er ihn erst vor dem Untersuchungsrichter beschuldigt hatte, billigte durch Nicken mit dem Kopfe diesen Dank, während ein schwaches Lächeln auf seinen dünnen Lippen zitterte. Schon seit längerer Zeit arbeitete er nicht mehr, die Hände in den Taschen schielte er auf die Koupees, um zu sehen, ob nicht ein unter den Rädern liegender, verlorener Gegenstand bei Seite zu bringen wäre.
Der Zugführer kam endlich mit Jacques überein, daß man versuchen wolle, weiterzufahren. Pecqueux aber, der auf dem Geleise kauerte, rief den Locomotivführer herbei:
»Sehen Sie doch mal nach, der eine Cylinder hat etwas abbekommen.«
Jacques trat näher und bückte sich. Er hatte schon vorhin bemerkt, daß die Lison verwundet war. Man hatte beim Schaufeln gefunden, daß die an der Böschung von den Bahnarbeitern zurückgelassenen eichenen Querschwellen durch die Einwirkung des Schnees und des Windes bis auf die Schienen gerutscht waren; selbst der Stillstand des Zuges war theilweise durch sie herbeigeführt worden, weil die Locomotive gegen dieses Hinderniß gerathen war. Man bemerkte jetzt einen Riß auf dem Kolbenmantel, auch schien der Schaft etwas verbogen. Eine andre Verletzung war nicht zu entdecken, was Jacques sehr beruhigte. Möglicher Weise waren nochinnere Verletzungen da, denn nichts ist empfindlicher als der innere Mechanismus, das Herz, die lebendige Seele einer Locomotive. Er stieg auf die Plattform, pfiff, öffnete den Regulator, um das Athmen der Lison zu beobachten. Lange dauerte es, bis sie zu neuem Leben erwachte, wie eine Person, die einen schweren Fall gethan hat und ihre Glieder noch nicht wieder fühlt. Endlich entrang sich ihr ein schwerer Seufzer und noch wie betäubt und schwerfällig ließ sie ihre Räder einige Umdrehungen machen. Es ging, er konnte die Fahrt wagen. Aber er schüttelte trotzdem den Kopf. Er, der sie so genau kannte, fand sie unter seiner Hand so merkwürdig verändert, sie schien gealtert zu sein und einen tödtlichen Stoß erhalten zu haben. Dieser Schnee
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