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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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blutrothen, frischen Lippen ihre weißen Zähne hervor. Jacques saß rechts von ihr, das Messer in der unter den Schenkel geschobenen Faust, meinte er, daß sie ganz bequem niederzustechen sein würde. Er brauchte nur den Arm zu heben und damit einen Halbkreis zu beschreiben, um ihre Hand festzuhalten. Doch im Tunnel von Les Batignolles fielen ihm plötzlich die Hutbänder ein.
    »Da ist eine Schleife, die mich genirt,« überlegte er. »Ich muß erst meiner Sache gewiß sein.«
    Die beiden Frauen schwatzten noch immer vergnügt weiter.
    »Ich sehe also, daß Sie recht glücklich sind.«
    »Glücklich ist gar kein Ausdruck dafür, ich lebe wie in einem Traume … Vor zwei Jahren noch war ich gar nichts. Sie erinnern sich, wie wenig unterhaltsam es bei meiner Tante zuging, und keinen Pfennig Mitgift … Als er kam, zitterte ich, denn ich konnte ihn zuerst nicht ausstehen. Aber er war schön und reich … Und nun gehört er mir, er ist mein Gatte, wir haben unser Kind! Es ist fast zu viel des Guten!«
    Jacques constatirte, während er die Schleifen des Hutbandes prüfte, daß an einem schwarzsammtnen Bande einschweres, goldenes Medaillon hing. Nun legte er sich seinen Plan zurecht:
    »Mit Deiner linken Hand würgst Du sie am Halse, beim Zurückbiegen des Kopfes wird das Medaillon auf die Seite rutschen und die Kehle wird frei sein.«
    Der Zug hielt mehrfach auf eine Minute an und dampfte dann weiter. Bei Courcelles und Neuilly waren kurze Tunnels gefolgt. Eine Sekunde und es war geschehen.
    »Sie waren an diesem Sommer an der See?« begann die alte Dame von Neuem.
    »Ja, sechs Wochen in der Bretagne in einem ganz versteckten Winkel, einem Paradiese. Den Herbst haben wir in Poitou bei meinem Schwiegervater zugebracht, der dort große Waldungen besitzt.«
    »Und wollen Sie nicht während des Winters noch nach dem Süden?«
    »Ja, wir wollen am 15. in Cannes sein … Das Haus mit einem kleinen Gärtchen direct am Meer ist bereits gemiethet. Wir haben Jemand hinuntergeschickt, der die ganze Einrichtung besorgt … Weder mein Mann noch ich sind empfänglich für die Kälte, doch die Sonne ist doch etwas so Schönes. Im März wollen mir wieder zurück sein. Im nächsten Jahr bleiben wir ganz in Paris. In zwei Jahren, wenn unser Kind kräftig genug ist, wollen wir reisen. Was weiß ich, es ist ein stetes Fest.«
    Ihre Glückseligkeit brauchte Raum, und so wandte sie auch ihr lachendes Gesicht dem unbekannten Manne, Jacques, zu. Bei dieser Bewegung löste sich die Schleife der Hutbänder, das Medaillon rutschte herum und der warmblütige Hals mit einem kleinen, vom Schatten vergoldeten Grübchen kam zum Vorschein.
    Jacques’ Finger krampften sich um den Stiel des Messers, während er einen unwiderruflichen Entschluß faßte.
    »Dort will ich zustechen. Und zwar gleich im Tunnel von Passy.«
    Doch bei der Station des Trocadero stieg ein Beamter ein, der Jacques kannte. Er sprach mit ihm von Dienstangelegenheiten und erzählte ihm von einem durch einen Locomotivführer und Heizer verübten Kohlendiebstahl. Von diesem Augenblick an ging Alles in die Brüche. Er wußte sich späterdes Folgenden nicht mehr zu erinnern. Das Lachen hatte nicht aufgehört und dieser Strahl von Glück hatte auch ihn durchzuckt und betäubt. Vielleicht war er mit den beiden Frauen bis Auteuil gefahren: aber er erinnerte sich nicht, daß sie dort ausgestiegen wären. Er selbst fand sich am Ufer der Seine wieder, ohne eigentlich zu wissen, wie er dorthin gekommen war. Das wußte er aber ganz genau, daß er das in seinem Aermel in seiner Faust gebliebene Messer in das Wasser geschleudert hatte. Wohin der Andere, der mit dem Messer, dann gegangen, war ihm fremd. Er dagegen mußte stundenlang ohne Besinnung auf’s Geradewohl durch Straßen und über Plätze marschirt sein. Menschen, Häuser waren an ihm in einem fahlen Nebel vorüber gezogen. Er war auch jedenfalls irgendwo eingetreten und hatte in einem von Menschen überfüllten Saale gegessen, denn vor seiner Erinnerung standen noch deutlich die weißen Teller. Er hatte auch die Empfindung, daß er auf einer geschlossenen Kellerthür ein rothes Plakat gesehen hatte. Alles andere aber war in einen tiefen Schlund in das Nichts versunken, das weder Zeit noch Raum kennt und vielleicht schon seit Jahrhunderten träge schlummert.
    Jacques kam erst in seinem Kämmerchen in der Rue Cardinet zur Besinnung. Er hatte sich angekleidet auf sein Bett geworfen. Der Instinct hatte ihn dorthin geführt wie einen

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