Die Bestie im Menschen
Fäusten um sich hauenden Arbeiters. Daß er so stumpfsinnig und schweigsam war, daß seine Augen so wirr umherblickten, war ihnen ein Beweis, daß er irgend einen Hinterhalt erdacht hatte, in welchem er sie fangen wollte. Deshalb wandten sie bei ihren nächsten Stelldicheins tausend Vorsichtsmaßregeln an und waren stets auf der Lauer. Roubaud’s Abwesenheit aber wurde mit jedem Tage auffälliger. Vielleicht entfernte er sich absichtlich, nur, um plötzlich zurückzukehren und sie mitten in einer Umarmung zu überraschen. Allein diese Befürchtung verwirklichte sich nicht. Im Gegentheil, sein Fortbleiben dehnte sich so aus, daß er eigentlich niemals da war. Er entschlüpfte sobald er frei war und kehrte erst auf die Minute genau zurück, um seinen Dienst anzutreten. In den Wochen, in denen er am Tage Dienst hatte, frühstückte er um zehn Uhr in nur fünf Minuten, dann ging er fort und erschien erst wieder um halb zwölf. Sobald des Nachmittags um fünf Uhr sein Kollege ihn ablöste, war er sofort auf und davon und kehrte öfters erst am frühen Morgen wieder. Er genoß kaum einige Stunden Schlaf. Genau so geschah es, wenn er Nachtdienst hatte. Um fünf Uhr Morgens war er frei, zurück aber kamer erst um fünf Uhr Nachmittags, wahrscheinlich aß und schlief er außerhalb seines eigenen Hauses. Trotz dieser unsinnigen Wirthschaft war er noch eine lange Zeit hindurch die Pünktlichkeit eines Musterbeamten in Person; auf die Minute genau trat er seinen Dienst an; dabei war er oft so müde, daß ihn seine Füße nicht tragen konnten, trotzdem kam er gewissenhaft seinen Pflichten nach. In jüngster Zeit aber nahm er es nicht mehr so genau. Zweimal schon hatte Moulin, der andere Unter-Inspector, eine volle Stunde auf ihn warten müssen; als er eines Vormittags nach dem Frühstück nicht wieder erschien, hatte ihn Moulin als wackrer Kamerad sofort vertreten, um ihm eine Rüge zu ersparen. Die ganze Dienstleistung Roubaud’s fiel auf diese Weise allmählich einer langsamen Desorganisation heim. Am Tage war er nicht mehr der thätige Mann, der die Züge expedirte und empfing erst nachdem seine Augen überall hin gewendet waren, um die geringsten Unregelmäßigkeiten dem Bahnhofsvorsteher zu rapportiren, der unnachsichtlich den Anderen und auch sich selbst gegenüber war. Nachts schlief er in dem großen Lehnsessel seines Bureaus einen bleiernen Schlaf. Selbst wenn er wach geworden, schien er noch weiter zu schlafen, denn er wanderte mit auf den Rücken gelegten Händen auf dem Bahnsteig auf und ab und gab die Befehle, deren Ausführung er nicht einmal prüfte, mit einer gleichgültigen Stimme. Durch die Macht der Gewohnheit ging trotzdem noch Alles gut ab, nur einmal fuhr durch seine Nachlässigkeit ein Personenzug auf einen Remisestrang. Seine Kollegen lachten über ihn und erzählten, er sei ein Trinker geworden.
In Wahrheit lebte Roubaud jetzt nur im ersten Stockwerk des Café du Commerce, in dem kleinen abseits gelegenen Saal, der nach und nach zur Spielhölle geworden war. Man erzählte sich, daß sich dort auch allnächtlich Weiber einfänden, doch hatte man bisher in der That nur eine entdecken können, das Verhältniß eines in Ruhestand versetzten Kapitäns, die mindestens vierzig Jahre alt war und ohne jede geschlechtliche Neigung dem Spiele fröhnte. Dort huldigte der Unter-Inspector der stumpfsinnigen Leidenschaft des Spieles, die nach dem Morde zufällig bei einer Parthie Piquet in ihm erwacht war. Diese Leidenschaft war gewachsen und jetzt zur gebieterischen Gewohnheit geworden, sie zog ihn von allenanderen Gedanken ab und verschaffte ihm ein wohlthuendes Vergessen. Sie besaß ihn soweit, daß er, dieser thierische Weiberfreund, jeden Gedanken an ein weibliches Wesen fahren ließ, daß das Spiel allein ihn vollständig befriedigen konnte. Die Gewissensbisse allein hätten ihn gewiß niemals so gepeinigt, daß er ein völliges Vergessen nöthig gehabt hätte, aber die Erschütterung, die seine Ehe und damit seine Existenz erfahren, hatte ihn dieser Tröstung, diesem Strudel egoistischen Glücks, das er für sich allein auskosten konnte, in die Arme geführt. Diese an seinem Ruin arbeitende Gier erstickte in ihm alles Andere. Der Schnaps würde ihm nicht schneller verfließende, freiere, leichtlebigere Stunden verschafft haben. Er kümmerte sich garnicht mehr um die Sorgen der Alltäglichkeit, sein Dasein schien von einer außerordentlichen Spannkraft gehoben, vollständig uninteressirt rührte ihn garnicht
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