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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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verlaufenen Hund, der sein Heim wittert. Im Uebrigen wußte er nicht, wie er die Treppe hinaufgekommen und wie er eingeschlafen war. Er erwachte aus einem bleiernen Schlummer wie aus einer tiefen Ohnmacht und fühlte sich plötzlich wieder Herr seiner selbst. Vielleicht hatte er drei Stunden geschlafen, vielleicht auch drei Tage. Mit einem Male stand ihm Alles wieder vor der Erinnerung: die mit Séverine zugebrachte Nacht, das Geständniß des Mordes, seine Flucht als blutgierige Bestie. Erst jetzt fand er sich wieder allmählich zurecht, mit Schrecken dachte er an die Dinge, die er willenlos verübt. Die Erinnerung an die junge, ihn erwartende Frau brachte ihn mit einem Sprunge wieder auf die Füße. Er sah nach der Uhr, es war bereits vier. Mit ödem, ruhigen Kopf, wie nach einer starken Blutung, eilte er zur Sackgasse der Rue d’Amsterdam.
    Séverine hatte bis Mittag fest geschlafen. Als sieaufwachte, wunderte sie sich, Jacques nicht zu sehen. Sie machte Feuer im Ofen an. Als sie sich fertig angekleidet hatte, trieb sie der Hunger gegen zwei Uhr in ein Restaurant der Nachbarschaft. Als Jacques kam, war sie gerade die Treppe hinaufgestiegen, nachdem sie noch einige Gänge erledigt hatte.
    »Ich war so besorgt, mein Schatz!«
    Sie hing sich an seinen Hals und sah ihm tief in die Augen.
    »Was ist denn geschehen?«
    Er beruhigte sie trotz seiner Erschöpfung und der eisigen Kälte in seinen Gliedern.
    »Nichts, ein verwünschter Handlangerdienst. Wenn die erst einmal Einen beim Wickel haben, ist es aus.«
    Sie senkte die Stimme und sagte mit verschmitzter Demuth:
    »Denke Dir, ich bildete mir ein … ein dummer Gedanke, der mir große Sorge bereitete … ja, ich glaubte, Du würdest mir nach meinem Geständniß böse sein … Ich dachte schon, Du wärest fort auf Nimmerwiedersehen!«
    Thränen traten ihr in die Augen, sie schluchzte laut auf und schloß ihn fest in ihre Arme.
    »Ach, mein Liebling, wenn Du wüßtest, wie noth mir eine liebevolle Behandlung thut … Liebe mich, liebe mich sehr, nur Deine Liebe kann Alles vergessen machen … Jetzt, nun ich Dir mein ganzes Unglück gebeichtet habe, jetzt darfst Du mich nicht verlassen, schwöre es mir!«
    Jacques fühlte sich gerührt durch dieses Geständniß. Eine unüberwindliche Abspannung machte ihn windelweich.
    »Nein, nein, ich liebe Dich, fürchte nichts,« stotterte er.
    Auch er begann unter dem Drucke des abscheulichen Uebels, das ihn vorhin wieder gepackt hatte und nie von ihm weichen zu wollen schien, zu weinen: o, diese Schande, diese grenzenlose Verzweiflung!
    »Liebe mich, liebe auch Du mich mit Deiner ganzen Kraft, Du weißt nicht, wie nothwendig Du mir bist!«
    Ihr schauderte, sie wollte Alles wissen.
    »Du hast Kummer, sprich, erzähle mir.«
    »Nein, keinen Kummer. Dinge, die nicht existiren, traurige Gefühle, die mich unsäglich unglücklich machen, ohne daß ich sie näher bezeichnen kann, lassen mich so fürchterlich leiden.«
    Beide hielten sich umschlungen und ließen ihreschreckliche, sie peinigende Niedergeschlagenheit ineinanderfließen. Ihr Leiden schien endlos, denn es gab kein Vergessen, kein Verzeihen. Sie weinten und fühlten die blinden Gewalten dieses aus Kampf und Tod bestehenden Lebens.
    Jacques riß sich zuerst los. »Komm, wir müssen an die Abreise denken … Du wirst heute Abend wieder in Havre sein.«
    Séverine starrte düster vor sich hin und flüsterte nach einer kleinen Pause:
    »Wie schön, wenn ich frei, wenn mein Mann nicht da wäre … O, wie glücklich könnten wir sein, wie schnell würden wir vergessen können!«
    Er machte eine heftige Bewegung, seine Gedanken sprachen für ihn:
    »Wir können ihn doch nicht tödten.«
    Sie sah ihn scharf an, er zitterte, denn er hatte zu seinem großen Erstaunen etwas gesagt, woran er noch nie gedacht. Wenn er durchaus tödten wollte, warum tödtete er nicht diesen unbequemen Menschen? Als er endlich von ihr ging, um in das Depot zu eilen, schloß sie ihn noch einmal in ihre Arme und bedeckte sein Gesicht mit Küssen.
    »O, liebe mich, mein Schatz … Ich will Dich auch noch viel, viel mehr lieben … Geh, wir werden glücklich sein.«
     

Neuntes Kapitel
    In den folgenden Tagen benahmen sich Jacques und Séverine, von Unruhe gepeinigt, in Havre sehr vorsichtig. Wenn Roubaud Alles wußte, warum belauschte, überraschte er sie nicht und rächte sich an ihnen eclatant? Sie erinnerten sich an seine eifersüchtigen Ausbrüche von ehedem, an seine Brutalitäten des einstigen, mit

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