Die Bestie im Menschen
angezogen, auf Jacques’ Knieen. Sie lehnte an seiner Schulter, einen Arm hatte sie zärtlich um seinen Hals geschlungen, als plötzlich Roubaud eintrat, der seinen eigenen Schlüssel besaß. Sie waren in flagranti ertappt, da half kein Leugnen. Der Gatte war regungslos stehen geblieben, während der Liebhaber ohne sich zu rühren auf dem Stuhl sitzen blieb. Séverine aber ließ sich nicht erst zu einer Erklärung herbei, sondern ging direct auf ihn zu und wiederholte wüthend:
»Dieb! Dieb! Dieb!«
Roubaud zögerte eine Sekunde. Dann trat er mit dem Achselzucken, mit welchem er jetzt alles abfertigte, weiter in das Zimmer hinein und griff nach der Dienstmütze, die er vergessen hatte. Sie aber verfolgte und beschuldigte ihn:
»Du hast dort gesucht, wage nicht, es zu leugnen! … Und Du hast alles genommen, Du Dieb, Du Dieb, Du Dieb!«
Er durchschritt ohne ein Wort zu erwidern das Speisezimmer. An der Thür nur wandte er ihr seinen düsteren Blick zu:
»Bleibe mir gewogen, verstanden?«
Die Thür fiel geräuschvoll in’s Schloß. Er war gegangen, er schien nichts gesehen zu haben, denn er hatte von dem Liebhaber gar keine Notiz genommen.
»Glaubst Du?« fragte Séverine nach einer längeren Pause.Dieser hatte kein Wort gesprochen, sondern sich stillschweigend erhoben. Jetzt sagte auch er seine Meinung.
»Er ist ein todter Mann.«
Sie hatten Beide denselben Gedanken. Ihrer Ueberraschung, daß der zweite Liebhaber geduldet wurde, nachdem der erste Liebhaber ermordet war, folgte der Abscheu vor dem gefälligen Ehemann. Ist erst ein Mann an diesen Punkt gelangt, dann liegt er auch ganz im Koth der Gosse.
Von diesem Tage an genossen Jacques und Séverine völlige Freiheit. Sie nutzten sie nach Kräften aus und kümmerten sich garnicht mehr um Roubaud. Je unbesorgter sie aber um den Gatten wurden, desto größer wurde auch ihre Furcht vor der Spionage der stets auf der Lauer liegenden Nachbarin, Frau Lebleu. Diese ahnte jedenfalls etwas. Jacques konnte noch so vorsichtig auftreten, er konnte es nicht verhindern, daß sich drüben lautlos die Thür ein wenig öffnete und durch diese schmale Ritze ein Auge ihn verfolgte. Das wurde auf die Dauer unerträglich, er wagte sich schon gar nicht mehr nach oben. Er riskirte es, daß sich ein Ohr an das Thürschloß legte, wenn man ihn bei Séverine wußte. Auf diese Weise war jedes Kosen unmöglich, selbst das Plaudern. Séverine war außer sich über dieses Hinderniß, ihrer Leidenschaft freien Lauf zu lassen. Von neuem begann sie den alten Krieg gegen die Lebleu wegen der Wohnung Jener. Es war notorisch, daß zu allen Zeiten der Unter-Inspector letztere innegehabt hatte. Doch jetzt lockte sie nicht mehr der herrliche Blick auf den Bahnhofsplatz und die Höhen von Ingouville, den die Fenster boten. Der wahre Grund ihres Verlangens, den sie natürlich Niemandem sagte, war der, daß jene Wohnung eine zweite Entreethür besaß, die zu einer Diensttreppe führte, Jacques hätte durch diese gehen und kommen können, ohne daß Frau Lebleu einen seiner Besuche zu ahnen brauchte. Dann endlich waren sie ganz frei.
Die Schlacht tobte fürchterlich. Diese Frage, die schon einmal den ganzen Corridor in Aufruhr versetzt hatte, kam von Neuem auf die Tagesordnung und spitzte sich von Stunde zu Stunde mehr zu. Die bedrohte Frau Lebleu wehrte sich mit dem Muthe der Verzweiflung, der Tod war ihr gewiß, wie sie meinte, wenn man sie in die dunkle, verließartigeHinterwohnung sperrte, die von dem hohen Zinkdach umzäunt wurde. Wie sollte sie, die an ihr helles, auf den weiten Horizont sich öffnendes, von dem lebhaften Treiben der Reisenden wiederhallendes Zimmer gewöhnt war, dort hinten leben können? Da der Zustand ihrer Füße ihr jede Promenade verwehrte, hieß ihr den Ausblick auf das Zinkdach eröffnen eben so viel als sie sofort tödten. Unglücklicherweise nützten ihr diese sentimentalen Ausflüchte nichts, denn sie mußte selbst gestehen, daß der unverheirathete Vorgänger Roubaud’s ihr seine Wohnung nur aus Galanterie überlassen hatte; es mußte sogar ein Brief ihres Mannes existiren, in welchem derselbe sich zur Räumung dieser Wohnung verpflichtete, sobald der neue Unter-Inspector sie für sich reklamiren sollte. Bis jetzt hatte sich dieser Brief nicht wieder vorgefunden, sie konnte also sein Vorhandensein leugnen. Je mehr sich die Angelegenheit zuspitzte, desto aggressiver und rücksichtsloser wurde sie geführt. Frau Lebleu versuchte sogar die Frau Moulin’s, des
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