Die Bestie im Menschen
zweiten Unter-Inspectors, mit in das Gerede zu bringen, die, wie sie behauptete, ebenfalls gesehen hätte, daß sich Frau Roubaud von fremden Männern im Corridor umarmen ließ. Moulin war wüthend darüber, denn seine Frau, eine sanfte, höchst unbedeutende Person, die sich vor Niemanden sehen ließ, beschwor weinend, nichts gesehen zu haben. Acht Tage lang pfiff dieser Sturmwind von einem Ende des Corridors bis zum andern. Der Cardinalfehler Frau Lebleu’s, der schließlich ihre Niederlage besiegeln mußte, war die hartköpfige Spionage hinter Fräulein Guichon her, der Billetverkäuferin: das Bedürfniß, sie bei einem nächtlichen Rendezvous mit dem Bahnhofsvorsteher abzufassen, war bei ihr immer mehr zu einer Manie, einer fixen Idee ausgeartet, trotzdem sie in den zwei Jahren ihres Spionirens noch nicht einmal einen Hauch hatte hören können. Daß sie trotzdem ihrer Sache gewiß war, machte sie geradezu toll. Fräulein Guichon, die wüthend darüber war, daß sie weder heimkehren noch ausgehen konnte, ohne beobachtet zu werden, that natürlich auch das Ihrige, daß Jene in die Hofwohnung verwiesen wurde: dann trennte sie eine Wohnung von der Jener, sie hatte Frau Lebleu nicht mehr sich gegenüber und brauchte nicht an deren Wohnung vorüberzugehen. Der Bahnhofsvorsteher, Herr Dabadie, der sich bis jetzt in diesen Streit nicht gemischt hatte, nahm ganz auffällig vonTag zu Tag immer mehr Partei gegen die Lebleu. Das war ein bedenkliches Zeichen.
Andere Streitigkeiten machten die Situation noch verwickelter. Philomène trug ihre frischen Eier jetzt zu Séverine und benahm sich sehr frech gegen Frau Lebleu, wenn sie dieser begegnete; und da diese ihre Thür absichtlich offen ließ, um jeden Vorübergehenden zu ärgern, so waren die Schimpfereien der beiden Frauen nachgerade etwas Alltägliches. Diese Intimität Séverine’s mit Philomène war aus den vertraulichen Botschaften entstanden, die Jacques durch Letztere übermitteln ließ, seit er selbst nicht mehr zu kommen wagte. Die Eier bildeten nur den Vorwand ihrer Besuche, in Wahrheit überbrachte sie Jacques’ Mittheilungen über die Verlegung des Stelldicheins, warum er am Abend vorher hatte vorsichtig sein müssen und wie lange er mit Philomène geplaudert habe. Wenn irgend ein Hinderniß Jacques vom Kommen abhielt, verweilte er gern in dem Häuschen Sauvagnat’s, des Depotchefs. Er begleitete seinen Heizer Pecqueux dorthin, wenn er sich zerstreuen und den Abend nicht allein verbringen wollte. Selbst wenn der Heizer es vorzog, die Matrosenkneipen aufzusuchen, ging er zu Philomène, ertheilte ihr einen Auftrag für Séverine, setzte sich und blieb dort. So nach und nach in das Geheimniß dieses Liebesverhältnisses eingeweiht, erwärmte sie sich immer mehr dafür, denn sie hatte bisher nur brutale Liebhaber kennen gelernt. Die kleinen Hände und die höflichen Manieren dieses traurigen Menschen mit den sanften Mienen däuchten ihr noch nie gekostete Süßigkeiten. Von Pecqueux’s Liebeleien war sie nachgerade übersättigt, waren es doch mehr Rohheiten als Zärtlichkeiten, während ein vom Locomotivführer an die Frau des Unter-Inspectors gerichtetes Wort ihr selbst wie eine verbotene Frucht schmeckte. Eines Tages vertraute sie sich Jacques an, sie beklagte sich über den Heizer, der nach ihrer Meinung trotz seines ewigen Grinsens ein heimtückischer Mensch und wenn er betrunken, jeder schlechten That fähig war. Es fiel Jacques auf, daß sie ihren mageren, brünstigen, trotz allem immer noch begehrenswerthen Pferdekörper mit den leidenschaftlichen Augen jetzt mehr als früher pflegte, weniger trank und das Haus sauberer hielt. Als ihr Bruder eines Abends den Ton einer Männerstimme bei ihr vernahm, trat er mit erhobener Handin ihr Zimmer, um sie zu züchtigen; als er jedoch den Besuch erkannte, hatte er ihm einen Schnaps angeboten. Jacques fühlte sich so gut aufgenommen, von seinem Schauer geheilt und schien sich aus diesem Grunde dort zu gefallen. Deshalb zeigte auch Philomène eine immer lebhaftere Freundschaft für Séverine und eine entsprechend größere Feindschaft gegen Frau Lebleu, die sie eine alte Gans nannte.
Als sie eines Nachts den beiden Liebenden hinter ihrem Gärtchen begegnete, begleitete sie dieselben im Dunkeln bis zur Remise, in der sie sich noch nach wie vor niederließen.
»Sie sind zu gut. Die Wohnung kommt Ihnen zu. Ich an Ihrer Stelle würde sie an den Haaren herausziehen … Löschen Sie ihr eine!«
Aber Jacques war nicht
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