Die Bestie im Menschen
verschaffte, ließ sie die eine Hand sinken und fühlte. Ja, es war das Messer. Ihm war ihre Absicht nicht entgangen. Heftig zog er sie an seine Brust und flüsterte ihr in’s Ohr:
»Er wird gleich kommen. Du wirst frei sein.«
Der Mord war beschlossen, sie meinten nicht mehr zu gehen, sondern von einer unbekannten Macht über den Erdboden getragen zu werden. Ihre Sinne hatten an Schärfe zugenommen, ihre Hände krampften sich schmerzhaft, der leiseste Hauch von ihren Lippen wurde mit einem Druck der Fingernägel erwidert. Sie vernahmen jedes fernhin durch die Finsterniß verhallende Geräusch, das Keuchen der Locomotiven, gedämpfte Stöße, hallende Schritte. Sie sahen die Nacht, die schwarzen Haufen von allen möglichen Gegenständen, als ob der Nebel vor ihren Blicken gefallen wäre. Eine Fledermaus strich vorüber, sie konnten ihrem Fluge kreuz und quer folgen. An der äußersten Ecke eines Kohlenhaufens blieben sie unbeweglich stehen, mit Augen und Ohren lauschten sie, ihr ganzes Wesen spannte sich. Jetzt flüsterten sie.
»Hast Du nicht dort unten einen Alarmruf gehört?«
»Nein, es war ein in die Remise geführter Waggon.«
»Aber dort links geht Jemand. Der Sand hat geknirscht.«
»Nein, es sind Ratten, die in dem Haufen wirthschaften, die Kohle bröckelt ab.«
Weitere Minuten vergingen. Plötzlich reckte sie sich an ihm empor.
»Da ist er.«
»Wo? Ich sehe nichts.«
»Er ist eben um den Frachtgüterschuppen herumgebogen und kommt direct auf uns zu … Da! Sein Schatten geht an der weißen Mauer entlang!«
»Du glaubst, daß dieser dunkle Punkt … Er ist also allein?«
»Ja, allein, ganz allein.«
In diesem entscheidenden Augenblick warf sie sich ihm abermals wie toll um den Hals und ihre glühenden Lippen suchten die seinen. Es war das ein inniger Kuß lebendigen Fleisches, als wollte sie ihm Blut von ihrem Blut einflößen. Wie heiß sie doch ihn liebte und wie sehr sie Jenen verfluchte!
O, sie hatte es an zwanzig Male schon wagen und selbst dieses Geschäft verrichten wollen, um ihm den Schrecken zu ersparen, aber ihre Hände waren hierzu zu schwach, sie fühlte sich hierzu viel zu sanft, so etwas bedurfte einer Männerfaust. Mit diesem langen Kuß gab sie ihm allen Muth, den sie besaß, das Versprechen ihm ganz zu dienen. Fleisch von ihrem Fleisch. Eine Locomotive pfiff in der Ferne und klagte melancholisch durch die öde Nacht; mit regelmäßigen Stößen sauste irgendwo ein Riesenhammer auf ein Eisen nieder, während die vom Meere heraufgestiegenen Nebel wie ein wildes Heer am Himmel sich ballten und fortwälzten und von Zeit zu Zeit die funkelnden Zungen der Gaslaternen auszulöschen drohten. Als sie endlich seinen Mund freigab, fühlte sie nichts mehr in sich, sie glaubte vollständig in ihn aufgegangen zu sein.
Er hatte mit einem Griff das Messer aufgeklappt, gleich darauf stieß er einen wilden Fluch aus.
»In des Teufels Namen, er geht wieder!«
In der That wandte sich der bewegliche Schatten, nachdem er sich ihnen bis auf fünfzig Schritte genähert hatte, nach links und entfernte sich mit dem ruhigen Schritte eines Nachtwächters, den nichts aus seiner Gelassenheit bringen kann.
Sie drängte ihn vorwärts.
»Komm’, so komm doch.«
Beide glitten, er vorn, sie dicht hinter ihm, wie Jäger hinter dem Wilde lautlos dahin. An der Ecke der Reparaturwerkstätten verloren sie ihn einen Augenblick aus den Augen, dann fanden sie ihn höchstens zwanzig Schritte vor sich wieder, als sie behende einen Remisenstrang überschritten, um ihm den Weg abzuschneiden. Sie mußten die kleinsten Vorsprünge der Mauer als Versteck wählen, ein einziger falscher Schritt würde sie verrathen haben.
»Wir werden ihn nicht fassen,« brummte er. »Wenn er den Weichensteller erreicht, entkommt er uns.«
Sie flüsterte ihm wieder in den Hals hinein:
»Geh, geh nur.«
In diesem Augenblick, inmitten dieses weiten, in Finsterniß getauchten Terrains und der nächtlichen Trostlosigkeit des großen Bahnhofs war er zu Allem entschlossen, kam ihm doch diese Einsamkeit wie eine Mitschuldige vor. Seine Aufregung wuchs, während er seinen flüchtigen Schritt beflügelte, nochmals hielt er sich die Gründe vor, die diesen Mord als eine weise, berechtigte, logisch bekämpfte und logisch erklärliche That hinstellten. Er übte nur ein ihm zukommendes Recht aus, das Urrecht alles Lebens, denn dieses Blut des Anderen gebrauchte er unumgänglich für sein eigenes, ferneres Leben. Er brauchte nur dieses Messer ihm
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