Die Bestie im Menschen
der Generationen in sich eingesaugt, sein verfeinertes, mit Skrupeln ausstaffirtes Gehirn stieß den Mord mit Abscheu von sich, sobald er ihn zu begründen versuchte. Ja, tödten aus Selbstschutz in einer instinctiven Anwandlung, das ginge noch an, aber tödten mit Vorsatz, aus Interesse und Kalkul, das zu thun fühlte er sich nie, niemals im Stande!
Der Tag brach bereits an, als Jacques ein wenig einschlummerte, aber sein Schlaf war ein so leichter, daß sich der abscheuliche Kampf in ihm fortsetzte. Die folgenden Tage waren die schmerzlichsten seines Lebens. Er ging Séverine aus dem Wege, er hatte ihr sagen lassen, daß er sie am Sonnabend nicht erwarten würde, denn er fürchtete sich vor ihren Blicken. Aber am Montag mußte er sie wiedersehen, und wie er richtig befürchtet hatte, vermehrten ihre blauen, sanften, so unergründlich tiefen Augen wieder seine Angst. Sie sprach kein Wort von seinem Vorhaben, keine Bewegung, keine Silbe drängten ihn dazu. Aber aus ihren fragenden bittenden Augen sprach nichts Anderes als dieses. Er wußte nicht, wie er sich vor ihrer Ungeduld und ihrem Vorwurf rechtfertigen sollte; immer wieder fand er sie auf sich gerichtet, immer wieder las er aus ihnen das Erstaunen, daß er noch zögern könnte, glücklich zu werden. Als er von ihr ging, zog er sie rasch und heftig an sich, um ihr verstehen zu geben, daß er entschlossen sei. Er war es in der That, er war es bis er die letzte Stufe der Treppe hinter sich hatte. Dann begann von Neuem der Kampf seines Gewissens. Als er sie am übernächsten Tage wiedersah, stand ihm die Feigheit, daß er vor einer nothwendigen That zurückschrecke, deutlich auf dem bleichen Gesicht mit den unstät blickenden Augen geschrieben. Sie hing wortlos schluchzend an seinem Halse und schien sich fürchterlich unglücklich zu fühlen; er war wie verdreht und glaubte sich selbst verachten zu müssen. So oder so mußte er damit zu Ende kommen.
»Am Donnerstag dort unten, willst Du?« fragte er leise.
»Ja, am Donnerstag, ich werde auf Dich warten.«
Die Nacht von Donnerstag zum Freitag war kohlrabenschwarz. Ein sternenloser, von den dichten, undurchsichtigen Nebeln des Meeres erfüllter Himmel spannte sich über Havre aus. Wie gewöhnlich war Jacques zuerst zur Stelle und wartete hinter dem Hause der Sauvagnat auf Séverine. Die Finsterniß war eine so dicke, daß er ihr leichtfüßiges Kommen erst wahrnahm, als sie ihn bereits streifte, worüber er erschrak. Gleich lag sie in seinen Armen, nicht wenig beunruhigt, daß sie ihn zittern fühlte.
»Ich habe Dir Furcht eingejagt,« flüsterte sie.
»O, nicht doch, ich habe Dich ja erwartet … Komm’, es kann uns heute Niemand sehen.«
Die Arme um die Hüften geschlungen, wanderten sie über das weite Terrain. Auf dieser Seite des Depots brannten nur sehr wenige Gaslaternen, an manchen, besonders dunklen Stellen fehlten sie vollständig, während sie vom Bahnhof her wie helle Sternchen herüberblinkten.
Lange wandelten sie wortlos dahin. Sie hatte den Kopf an seine Schulter gelehnt, hob ihn öfters und küßte ihm das Kinn; er beugte sich dann zu ihr hernieder und gab ihr als Erwiderung einen Kuß auf die Schläfe, auf die Wurzeln der Haare. Ein einziger, banger Ton von den fernen Kirchen kündigte die erste Morgenstunde an. Sie sprachen nicht und doch vernahmen sie ihre beiderseitigen Gedanken in ihrer Umarmung. Sie dachten nur an das Eine, so oft sie beisammen waren, wurden sie nur von diesem einen Gedanken beherrscht. Der Kampf tobte fort, warum noch darüber unnütze Worte verlieren, wo es allein zu handeln galt? Als sie sich zärtlich an ihm emporrichtete, fühlte sie in seiner Hosentasche das Messer. Er war also doch entschlossen?
Doch ihre Gedanken bewegten sie zu mächtig, um noch länger schweigen zu können, ihre Lippen öffneten sich und flüsterten kaum hörbar:
»Er kam eben nach oben, zuerst wußte ich nicht, was er wollte, dann sah ich ihn nach seinem Revolver langen, den er vergessen hatte … Er wird jedenfalls eine Runde machen wollen.«
Wieder schwiegen sie, doch zwanzig Schritte weiter begann er zu sprechen:
»In der letzten Nacht ist hier Blei gestohlen worden … Er wird zweifellos hierher kommen.«
Sie erzitterte. Beide verstummten und machten ganz kleine Schritte. Ein Zweifel war in ihr aufgestiegen: war es wirklich das Messer, das seine Tasche aufbauschte? Zweimal bückte sie sich, um ihrer Sache gewiß zu sein. Als aber ihr Reiben an seinem Beine ihr noch keine Gewißheit
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