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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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in den Hals zu bohren und das Glück war sein.
    »Wir werden ihn nicht bekommen, wir werden ihn nicht bekommen,« wiederholte er wüthend, denn er sah den Schatten jetzt das Weichenstellerhäuschen passiren. »Verflucht, da geht er hin.«
    Im selben Augenblick aber packte sie ihn mit ihrer nervigen Hand am Arm und zog ihn an sich.
    »Sieh nur, er kommt zurück.«
    Roubaud war in der That umgekehrt. Er wandte sich nach rechts, dann kam er wieder auf sie zu. Vielleicht hatte er auf seinem Rücken die dunkle Empfindung von den seine Spur verfolgenden Mördern gehabt. Er setzte seinen Weg ruhigen Schrittes fort, wie ein gewissenhafter Wächter, der erst heimkehren will, nachdem er alles in Augenschein genommen hat.
    Jacques und Séverine rührten sich nicht mehr vom Flecke. Zufällig waren sie gerade hinter der vorspringenden Ecke eines Kohlenhaufens stehen geblieben. Sie drückten sich mit dem Rückgrat fest an ihn, als wollten sie in ihn hineinkriechen und waren in dem Tintenmeer mit einem Male völlig verschwunden. Sie hielten den Athem an.
    Jacques sah Roubaud direct auf sich zukommen. Noch trennten sie dreißig Schritte, doch mit jedem Schritte verminderte sich regelmäßig der Abstand, als schlüge der unerbittliche Balanzier des Schicksals den Tact. Zehn Schrittund nochmals zehn Schritt: gleich hatte er ihn vor sich, er brauchte nur den Arm zu erheben, ihm das Messer in den Hals zu stoßen und ihn von rechts nach links zu ziehen, um den Schrei zu ersticken. Die Sekunden däuchten ihm endlos; ein solche Fluth von Gedanken durchtobte die Leere seines Schädels, daß ihm jede Zeitmessung abhanden ging. Noch einmal zogen alle Gründe, die ihn zu dieser That drängten, an ihm vorüber, er erlebte bereits den Mord, er wußte seine Ursachen und seine Folgen. Noch fünf Schritte. Sein bis zum Platzen angespannter Entschluß stand unerschütterlich fest. Er wollte tödten, er wußte, warum er tödtete.
    Jetzt noch zwei Schritt, da mit einem Mal ging in ihm alles kopfunter, kopfüber. Nein, er konnte diesen wehrlosen Mann nicht heimtückisch morden. Das Grübeln konnte ihn nicht zum Mörder machen, er gebrauchte kein Instrument zum Morde, er mußte ihn aus Hunger oder Leidenschaft zerfleischen können. Was konnte er dafür, daß das Gewissen aus den überlieferten Ansichten einer langsamen Gerechtigkeitsvererbung sich zusammensetzte! Er fühlte sich nicht berechtigt zu tödten und was immer auch er sich einzureden suchte, dieses Recht konnte er nie in Anspruch nehmen.
    Roubaud schritt gelassen vorüber. Sein Ellbogen streifte beinahe die gegen die Kohlen Lehnenden. Ein einziger Athemzug hätte sie verrathen, aber sie blieben starr wie Todte. Kein Arm erhob sich, kein Messer blitzte. Nichts rührte sich in der Finsterniß, nicht einmal ein Schauder. Roubaud war schon zehn Schritt weit entfernt und noch immer war ihr Rücken wie angenagelt an die Kohle; athemlos blieben sie stehen, als fürchteten sie den einsamen, wehrlosen Mann, der sie soeben fast berührt hatte und so friedlich seinen Weg fortsetzte.
    Jacques stöhnte vor Wuth und Schande.
    »Ich kann nicht, ich kann nicht!«
    Er wollte sich an Séverine lehnen, sich auf sie stützen, ihn verlangte es nach ihrer Entschuldigung, ihrer Tröstung. Aber ohne ein Wort zu verlieren, entwand sie sich ihm. Er streckte seine Hände nach ihr aus, doch ihre Kleider glitten ihm durch die Finger, er vernahm nur noch ihre flüchtigen Schritte. Vergebens folgte er ihr, denn dieses plötzliche Verschwinden nahm ihm vollends den Kopf. Hatte sie sichüber seine Schwachheit geärgert? Verachtete sie ihn? Die Vorsicht empfahl ihm, ihr nicht nachzugehen. Doch als er sich allein in dieser mächtigen, nur von den gelblichen Thränen der Gaslaternen unterbrochenen Oede befand, befiel ihn eine grenzenlose Hoffnungslosigkeit. Er machte, daß er davonkam und vergrub seinen Kopf tief in die Kissen, um den Fluch zu ersticken, der auf seinem Dasein ruhte.
    Zehn Tage später, gegen Ende März triumphirten endlich die Roubaud über die Lebleu. Die Verwaltung hatte ihre, von Herrn Dabadie unterstützte Beschwerde berechtigt gefunden, denn auch der bewußte Brief, in welchem sich der Kassirer verpflichtete, die Wohnung zu räumen, sobald ein neuer Unter-Inspector sie reklamirte, war von Fräulein Guichon beim Durchsuchen alter Rechnungen in dem Bahnhofsarchiv gefunden worden. Frau Lebleu war außer sich über ihre Niederlage, sie erklärte sich sofort zum Ausziehen bereit; wenn man durchaus ihren Tod

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