Die Bestie im Menschen
einmal verheirathen würde, hatte sie ihm die Erlaubniß gegeben, eine alte Frau aus der Nachbarschaft, die Ducloux, mit dem Dienst an der Barriere zu beauftragen, eine alte Herbergsaufwärterin, die jetzt von den Ersparnissen eines schmutzigen Gewerbes lebte.
Als Cabuche das Zimmer verließ, nöthigte ein Blick von ihm Séverine zum Bleiben. Er war sehr bleich.
»Flore war es gewesen. Sie hatte die Pferde aufgehalten, so daß das Geleise durch die Steinblöcke versperrt war.«
Jetzt erzitterte auch Séverine und erbleichte.
»Was erzählst Du da, Schatz! –Du fieberst. Du mußt Dich wieder zu Bett legen.«
»Nein, nein, ich träume nicht .. Ich habe sie gesehen, wie ich Dich hier sehe. Sie hielt die Thiere fest und verhinderte es mit ihrer starken Faust, daß der Karren hinüber kam.«Die junge Frau sank auf einen Stuhl, denn ihre Füße versagten ihr plötzlich den Dienst.
»Mein Gott, mein Gott, wie fürchte ich mich … Das ist ungeheuerlich, ich werde keine Nacht mehr ruhig schlafen können.«
»Die Sache ist ganz klar,« fuhr er fort. »Sie hat eben versucht, uns Beide durch den Anprall zu tödten … Seit Langem schon zürnte sie mir und war auf Dich eifersüchtig. Sie hatte einen vertrackten Kopf mit ganz verrückten Ideen auf sich … So viel Morde mit einem Schlage, eine ganze Menschenmenge in ihrem Blute! O dieses liederliche Frauenzimmer!«
Seine Augen vergrößerten sich, ein nervöses Zucken verzog seine Lippen. Er schwieg und sie blickten sich noch eine volle Minute starr an. Dann rissen sie sich mit Gewalt von den abscheulichen, auf sie eindringenden Vorstellungen los und er sagte halblaut:
»Sie ist nun todt und kommt doch wieder! Seit ich wieder meine Gedanken zusammen habe, scheint sie fortwährend neben mir zu sein. Heute früh erst drehte ich mich um, weil ich glaubte, sie stehe am Kopfende meines Bettes. Sie ist todt und wir leben. Wenn sie sich nur nicht jetzt noch rächt!«
Séverine zuckte zusammen.
»O so schweige doch. Du wirst mich noch toll machen,«
Sie ging und Jacques hörte sie zu dem andern Verwundeten heruntergehen. Er blieb am Fenster und vergaß sich ganz in dem Anblick der Geleise, des kleinen Bahnwärterhäuschens mit seinem großen Schöpfbrunnen, der Signalstange und der kleinen Bretterbude, in der Misard über seine regelmäßige, eintönige Beschäftigung wahrscheinlich gerade eingeschlummert war. Diese Dinge nahmen seine Gedanken ganze Stunden hindurch gefangen, als suchte er dort die Lösung eines Problems, ohne sie zu finden, und als hänge doch gerade von dieser Lösung sein eigenes Heil ab.
Er wurde nicht müde, diesen Misard zu beobachten, dieses sanfte, schmächtige, kriechende Wesen, der in einem fort von Hustenanfällen geschüttelt wurde und doch wie ein hartnäckig nagendes Insect, von seiner Leidenschaft ganz erfüllt, am Ende seine stramme Frau durch Gift bei Seite geschafft hatte. Er hatte zweifellos schon seit Jahren keinen andrenGedanken gekannt als diesen und ihn Tag und Nacht während der endlosen Stunden seines Dienstes erwogen. Bei jedem Anschlagen der elektrischen, ihm einen Zug ankündenden Glocke in’s Horn stoßen, dann, wenn der Zug vorüber und das Geleise gesperrt war, an einen Knopf drücken, um den Zug dem nächsten Wärter anzuzeigen, und an einen zweiten, um den hinter ihm befindlichen Posten zu veranlassen, das Geleise frei zu geben: das waren die einfachen mechanischen Bewegungen, die schließlich zu körperlichen Eigenschaften geworden waren. Stumpfsinnig und der Buchstaben unkundig, las er natürlich nie, die Augen ließ er gedankenlos umherschweifen und wenn nichts zu thun war, schlenkerte er mit den Armen. Fast immer saß er in seiner Cabuche, er kannte keine andere Zerstreuung als die, seine Mahlzeiten möglichst in die Länge zu ziehen. Dann versank er wieder, ohne einen Gedanken fassen zu können, mit leerem Schädel in seine Dämlichkeit und wurde von Schlafanfällen so fürchterlich gequält, daß er oftmals mit offenen Augen schlief. Wollte er des Nachts nicht dieser unwiderstehlichen Schlafsucht in die Arme fallen, mußte er aufstehen und wie ein Trunkener auf seinen weichknochigen Beinen umherlaufen. Dieser Kampf mit seiner Frau also, dieser heimliche Kampf um die verborgenen tausend Franken, die dem Ueberlebenden gehörten, mußte demnach Monate und Monate hindurch das einzige Nachdenken in dem erschlafften Gehirn dieses einsamen Menschen gebildet haben. Wenn er in das Horn stieß, wenn er mit den Signalen hantirte
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