Die Bestie im Menschen
des Staates … Sehen Sie zu, daß die Sache vorwärts kommt, gleichviel welche Folgen sie nach sich zieht.«
»Die Beamten thun ihre volle Pflicht,« sagte Herr Denizet. Er grüßte und ging strahlend von dannen.
Als sich Herr Camy-Lamotte allein befand, zündete er zunächst eine Kerze an, dann entnahm er einem Schubfache den Brief Séverine’s. Das Licht brannte hell, er entfaltete den Brief, um ihn nochmals zu lesen. Er erinnerte sich dabei wieder dieser niedlichen Verbrecherin mit ihren Nixenaugen, die ihm einstmals eine so große Sympathie eingeflößt hatte. Sie war jetzt todt, unter traurigen Umständen gestorben. Wer kannte das Geheimniß, das sie mit in’s Grab genommen? Ja, wahrhaftig, die Wahrheit, die Gerechtigkeit alles war nur ein Schein! Ihm blieb von dieser reizenden, unbekannten Frau nur das Verlangen eines Augenblicks, das sie, wenn er gewollt, gewiß befriedigt hätte. Er näherte den Brief dem Lichte, und als er aufflammte, wurde ihm so traurig zu Muthe, als ahnte er ein Unheil: war es denn noch nöthig, diesen Beweis zu zerstören und sein Gewissen durch diese That zu belasten, nun das Schicksal es ohnehin wollte, daß das Kaiserreich ebenso in alle Winde zerstreut würde, wie das kleine Häuflein Asche, das seinen Fingerspitzen entschwebte?
In weniger als einer Woche hatte Herr Denizet die Untersuchung beendet. Er fand bei der Westbahn-Gesellschaft ein aufmerksames Entgegenkommen. Die gewünschten Dokumente und Zeugen wurden ihm unverweilt zur Verfügung gestellt. Wünschte sie doch selbst lebhaft, daß diese mißliche Geschichte eines ihrer Beamten ein Ende nähme, die die vielfach verknüpften Zweige der Administration, selbst die oberste Aufsichtsbehörde beinahe in’s Wanken gebracht hatte. Das kranke Glied mußte so schnell als möglich abgehauen werden. Abermals defilirte an dem Cabinet des Untersuchungsrichters das ganze Bahnhofspersonal von Havre vorüber, Herr Dabadie, Herr Moulin und alle Andern, welche vernichtende Aussagen über Roubaud’s schlechte Führung abgaben; dannkam Herr Bassière, der Bahnhofsvorsteher von Barentin an die Reihe, dessen Aussagen namentlich in Hinsicht auf den ersten Mord von entscheidender Wichtigkeit waren; dann folgten Herr Vandorpe, der Bahnhofsvorsteher von Paris, der Bahnwärter Misard und der Zugführer Henri Dauvergne; die beiden Letzteren äußerten sich sehr bestimmt über die ehelichen Gefälligkeiten des Verhafteten. Selbst Henri, den Séverine in la Croix-de-Maufras gepflegt hatte, erzählte, daß er eines Abends, während er sich noch schwach fühlte, vor dem Fenster die Stimmen Roubaud’s und Cabuche’s gehört zu haben glaubte. Diese Aussage erklärte vieles und machte das System der beiden Beschuldigten, die sich nicht zu kennen vorgaben, noch hinfälliger. Durch das ganze Personal der Gesellschaft ging ein Schrei der Entrüstung, man beklagte die unglücklichen Opfer, die arme junge Frau, deren Schwächen gern entschuldigt wurden, diesen rechtschaffenen Greis, der nun rein gewaschen war von den Schmutzgeschichten, die über ihn im Umlauf waren.
Die Leidenschaften ganz besonders angefacht aber hatte der Prozeß in der Familie Grandmorin selbst. Nach dieser Seite mußte Herr Denizet noch ganz besondere Anstrengungen machen, wollte er die Unbeflecktheit seiner Untersuchung retten. Die Lachesnaye jubelten, hatten sie doch immer Roubaud im Verdacht gehabt, weil ihr Geiz durch dieses Vermächtniß von la Croix-de-Maufras eine blutende Wunde erhalten hatte. In der Wiederaufnahme des Verfahrens erblickten sie natürlich eine günstige Gelegenheit zur Umstürzung des Testaments. Da es nur ein einziges Mittel zur Aufhebung des Testaments gab, nämlich auch Séverine eines undankbaren Vergehens zu zeihen, so stimmten sie der Aussage Roubaud’s, daß die Frau an dem Verbrechen teilgenommen habe, bei, nur mit dem Unterschiede, daß diese That nicht aus Rache für eine eingebildete Schande, sondern aus Habsucht begangen sei. So kam es, daß der Richter im Streit mit ihnen lag, namentlich mit Berthe, welche gegen die Ermordete, ihre einstige Freundin, giftig eiferte und sie mit abscheulichen Verdächtigungen überhäufte. Herr Denizet hatte alle Mühe, sein so gut aufgeführtes Gebäude der Logik vor jedem Angriff zu bewahren, erklärte er doch selbst voller Stolz, daß, wenn man nur einen Stein aus seinem Meisterwerk nähme, das ganze Hauszusammenbrechen müßte. Es kam in seinem Cabinet zu einem sehr heftigen Auftritt zwischen den Lachesnaye
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