Die Bestie im Menschen
wußte noch immer nicht, welchen Gebrauch er von dem aufbewahrten Briefe Séverine’s machen sollte. Dieser Brief hätte das ganze Anklagesystem über den Haufen geworfen, weil er ein unverwerflicher Beweis für die Aussage Roubaud’s war. Niemand wußte von ihm, er konnte ihn vernichten. Aber am Abend vorher hatte der Kaiser zu ihm gesagt, er wünsche, daß diesmal die Gerechtigkeit unbeeinflußt ihren Lauf nähme, sollte selbst seine Regierung darunter leiden müssen; es war das ein vereinzelter Aufschrei von Rechtschaffenheit, vielleicht aus Aberglauben, daß ein einzelner ungerechter Act, trotz der Akklamation durch das Land, das Schicksal umstimmen könnte. Der Generalsecretär fühlte keine Gewissensbisse, denn er pflegte alle Geschäfte dieser Gesellschaft als eine einfache mechanische Frage zu behandeln, und doch fühlte er sich verlegen werden, als er diesen Befehl erhielt. Er fragte sich, ob die Liebe zu seinem Herrn selbst einen Ungehorsam verzeihen würde.
Herr Denizet konnte seinen Triumph nicht zügeln.
»Meine feine Nase hat mich also nicht irre geführt, dieser Cabuche hat auch den Präsidenten ermordet … Allerdings auch die zweite Fährte enthielt etwas Wahrheit und ich muß gestehen, daß der Fall Roubaud ebenfalls etwas nebelhaft erscheint … Je nun, jedenfalls haben wir jetzt Beide.«
Herr Camy-Lamotte sah ihn mit seinen blassen Augen starr an.
»Es sind also alle in den Acten verzeichneten Thatsachen beglaubigt und Ihre Ueberzeugung ist unerschütterlich?«
»Unerschütterlich … Eines reiht sich an das andere, ich erinnere mich keines Falles, der trotz der augenscheinlichen Verwicklungen logischer sich entwickelt hätte und schon im Voraus leichter zu entscheiden gewesen wäre, als dieser.«
»Aber Roubaud streitet, er nimmt den ersten Mord ganz auf sich, er erzählt eine Geschichte von seiner entehrten Frau, von seiner Eifersucht, daß er in einem Anfalle blinder Wuth gemordet habe. Die Oppositionsblätter erzählen alles das.«
»Ja, sie erzählen es als einen Klatsch, an den sie selbstnicht glauben. Dieser Roubaud eifersüchtig, der die Stelldicheins seiner Frau mit dem Geliebten sogar förderte! Er möge diese Fabel nur vor dem Gerichtshofe wiederholen, der gesuchte Skandal wird nicht ausbrechen! … Ja, wenn er noch einen Beweis beibrächte, aber das kann er eben nicht. Er spricht wohl von einem Brief, den er seine Frau habe schreiben lassen, ein solcher aber ist unter den Papieren des Opfers nicht gefunden worden … Sie selbst, Herr Generalsecretär, haben ja die Papiere des Verstorbenen gesichtet, haben Sie etwas gefunden?«
Herr Camy-Lamotte antwortete nicht. Nach dem System des Richters allerdings wurde jedem Skandal die Spitze abgebrochen: Roubaud würde Niemand Glauben schenken, das Gedächtniß des Präsidenten wäre rein gewaschen von den abscheulichen Verdächtigungen, das Kaiserreich würde Nutzen ziehen können aus dieser lärmenden Rehabilitirung einer seiner Creaturen. Und da sich Roubaud so wie so schuldig bekannte, war es einerlei, nach welcher Version des Gerichts er verurtheilt werden würde. Es blieb also nur Cabuche zu berücksichtigen. Hatte dieser auch nicht an dem ersten Verbrechen theilgenommen, so war er doch zweifellos der Urheber des zweiten. Gerechtigkeit, Du lieber Gott, wohin war diese Illusion! Wenn die Wahrheit so im Argen lag, war da die Gerechtigkeit nicht das reine Federballspiel? Man hatte einzig und allein vernünftig zu sein, man mußte sich diese ihrem Ende zuneigende, dem Ruine nahe Gesellschaft von den Schultern zu schütteln wissen.
»Nicht wahr,« wiederholte Herr Denizet, »Sie haben einen solchen Brief nicht gefunden?«
Herr Camy-Lamotte richtete abermals seinen Blick auf ihn. Gelassen, als Herr der Situation, nahm er die Gewissensbisse, die den Kaiser gequält, auf sich und erwiderte:
»Ich habe nichts gefunden.«
Darauf überhäufte er lächelnd den Richter mit Belobigungen. Nur ein ganz, ganz schwaches Kräuseln der Lippen ließ so etwas wie bittere Ironie hindurchblicken. Noch nie sei eine Untersuchung mit so hoher Einsicht geführt worden. Es wäre jetzt an höchster Stelle beschlossen worden, daß er sofort nach den Ferien als Rath nach Paris versetzt werden sollte. Er begleitete ihn sogar bis auf den Hausflur.»Sie allein haben klar gesehen, Sie sind wirklich zu bewundern … Wenn erst die Wahrheit ihren Mund aufthut, darf nichts sie aufhalten, weder eine Rücksicht auf gewisse Persönlichkeiten noch auf die Interessen
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