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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Schimmer seiner Laternen ein Zug mit Getöse in den Tunnel, das, wie beim Donner allmählich erstarb. Jacques hatte sich aufgerichtet und sein Schluchzen eingestellt, als glaubte er, diese gleichgültige, zusammengepferchte, ihm unbekannte Menge könnte ihn hören. Er nahm jetzt eine unverdächtige Haltung an. Schon immer hatte er nach solchen Anfällen beim geringsten Geräusch die Gewissensbisse eines Schuldbehafteten empfunden! Ruhig, glücklich, fern von aller Welt lebte er nur auf seiner Lokomotive. Wenn sie ihn beim Erzittern ihrer Räder pfeilschnell davonführte, wenn er die Hand an der Kurbel seine ganze Wachsamkeit auf die Strecke und die Signale lenken mußte, dachte er an nichts anderes, mit vollen Lungen athmete er die reine, ihm sturmwindartig zugewehte Luft ein. Aus diesem Grunde liebte er seine Maschine, als wäre sie eine friedfertige Geliebte, von der er nur Glückseligkeiten zu erwarten hätte. Nach Verlassen der Gewerbeschule hatte er trotz seiner großen Intelligenz sich die Laufbahn eines Lokomotivführers gewählt, um ein einsames, betäubendes Leben führen zu können. Auch war er nicht ehrgeizig. Nach vier Jahren war er bereits Lokomotivführer erster Klasse und bezog als solcher einen Gehalt von zweitausendachthundert Franken, der mit den Heiz- und Putzprämien auf über viertausend wuchs. Mehr verlangte er nicht. Er sah seine Kameraden der zweiten und dritten Klasse, welche die Gesellschaft selbst in solche eintheilte, die Hilfsarbeiter, die sie als Lehrlinge annahm, fast immer Arbeiterinnen heirathen, ausgemergelte Frauen, die man nur zur Zeit der Abfahrt sah, wenn sie ihren Männern die Vorrathskörbchen brachten. Ehrgeizige Kameraden dagegen, namentlich solche, die eine Fachschule durchgemacht hatten, warteten mit ihrer Heirath, bis sie Depotchefs geworden, in der Hoffnung, eine Bürgerliche zu bekommen, eine Dame mit Hut. Ihm war alles das gleichgiltig, er floh ja doch die Frauen. Er wollte nie heirathen, sondern stets allein und abermals allein rastlos dahinrollen. Seine Vorgesetzten stellten ihn daher auch als einen Musterlokomotivführer hin, weil er nicht trank und nicht davonlief. Die bummlerisch veranlagten Kameraden natürlich neckten ihn wegen seiner ausbündig guten Führung, die Solideren aber erschreckte er, wenn er stumm, mit farblosen Augen und schrecklich verzerrtem Gesicht in seine Traurigkeit verfiel. Er erinnerte sich nicht mehr, wie viele Stunden er in seinem Kämmerchen in der Rue Cardinet schon zugebracht haben mochte, von welchem aus er das Depot von les Batignolles erblicken konnte, zu welchem seine Lokomotive gehörte. Er wußte nur, daß es so ziemlich seine sämmtlichen Freistunden gewesen waren, die er wie ein in seiner Zelle eingeschlossener Mönch dort verlebte. Hier kämpfte er gegen den Aufruhr seiner begehrlichen Wünsche mit Hilfe des Schlafes an, den er nur auf dem Bauche liegend fand.
    Jacques versuchte aufzustehen. Was machte er in dieser feuchten, nebligen Winternacht hier im Grase? Das Land blieb in Schatten gehüllt; nur am Himmel war es hell, dort ruhte noch der feine Dunst, die mächtige Kuppel aus unpolirtem Glas, vom dahinter verborgenen Monde mit einem fahlen, gelblichen Scheine durchleuchtet. Der düstere Horizont schlummerte in todesähnlicher Unbeweglichkeit. Auf! Es mußte schon auf neun Uhr gehen und es war rathsamer, heim zu gehen und sich auf’s Ohr zu legen. Aber seine Beklemmung spiegelte ihm vor, wie er jetzt zu den Misard kommen, die Treppe zur Vorratskammer hinaufsteigen, sich auf das Heu werfen und im Raume nebenan, durch eine dünne Plankenwand nur von dem seinen getrennt, Flore athmen hören würde! Er wußte sogar, daß sie sich nie einschloß, daß er also ohne Umstände bei ihr würde eintreten können. Und wieder überlief ihn ein heftiger Schauder, dachte er an das entkleidete Mädchen mit den vom Schlafe widerstandslosen, heißen Gliedern. Noch einmal drückte ihn das Schluchzen zu Boden. Er hatte sie tödten wollen, er wollte sie noch tödten! Der Gedanke, daß er sich jetzt anschicken wollte, sie nach seiner Heimkehr in ihrem Bette zu tödten, würgte und zerrte an ihm. Was half es ihm, daß er keine Waffe zur Hand haben, daß sie seinen Kopf mit ihren beiden Armen niederdrücken würde; er fühlte, das Uebel würde ihn dennoch gegen seinen Willen antreiben, die Thür zu ihrer Kammer zu öffnen und sie zu erwürgen. Unter dem Geißelhieb des raubthierartigen Instinktes und unter dem Zwange, das alte Unrecht zu rächen,

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