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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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achtzig Kilometer fährt!«
    Séverine tauschte gegen ihren Willen einen Blick mit Roubaud aus, der es über sich gewann zu sagen:
    »In der That, der müßte gute Augen haben.«
    »Thut nichts,« schloß Herr Cauche, »hier haben wir eine wichtige Aussage. Der Untersuchungsrichter wird Ihnen helfen klar zu sehen … Herr Lantier und Herr Roubaud nennen Sie mir Ihre genauen Namen wegen der Vorladung.«
    Die Untersuchung war zu Ende, die Gruppe der Neugierigen zerstreute sich allmählig, der Bahnhofsdienst nahm wieder seinen regelmäßigen Verlauf. Rouboud eilte zu dem Bummelzuge um neun Uhr fünfzig, in welchem die Reisenden schon Platz nahmen. Er hatte mit Jacques einen kräftigeren Händedruck als gewöhnlich gewechselt. Dieser blieb allein mit Séverine hinter Frau Lebleu, Pecqueux und Philomène zurück, die tuschelnd davongingen. Er sah sich auf diese Weise gezwungen, die junge Frau durch die Halle bis zur Treppe zu den Beamtenwohnungen zu begleiten. Er hatte für sie keine Worte, konnte aber doch nicht von ihr fort, als hätte sich soeben ein geheimes Band um Beide geschlungen. Die Heiterkeit des Tages war inzwischen gewachsen, die Sonne stieg siegreich aus den Nebeln des Morgens in die große Durchsichtigkeit des blauen Himmels auf, während der Seewind mit der Fluth an Stärke zunahm und eine salzige Frische herbeiwehte. Als er sie endlich mit einem banalen Abschiedswort verließ, begegnete er abermals ihren großen Augen, deren schreckensvoller, flehender, sanfter Blick ihn so sehr gerührt hatte.
    Ein leises Pfeifen. Roubaud gab das Zeichen zur Abfahrt. Die Lokomotive antwortete durch einen langgedehnten Pfiff und der neun Uhr fünfzig Zug rasselte hinaus, er fuhr schneller und schneller und verschwand in dem goldenen Geflimmer der Ferne.
     

Viertes Kapitel
    An einem Tage der zweiten Märzwoche hatte Herr Denizet, der Untersuchungsrichter, abermals gewisse wichtige Zeugen in der Sache Grandmorin in das Gerichtsgebäude von Rouen geladen.
    Seit drei Wochen machte der Vorfall ungeheuren Lärm. Er hatte in Rouen alles auf den Kopf gestellt, beschäftigte Paris leidenschaftlich und die Oppositionsblätter benutzten ihn in ihrem Kampfe gegen des Kaisers Regiment als Angriffswaffe. Die Nähe der allgemeinen Wahlen, welche jedes andre politische Interesse in den Hintergrund drängte, entfachte den Streit um so heißer. In der Kammer hatte es sehr stürmische Sitzungen gegeben: in der einen hatte man außerordentlich heftig die Bestätigung der Machtvollkommenheit zweier an die Person des Kaisers attachirter Deputirter bestritten; in einer anderen hatte man die Finanzverwaltung des Sainepräfecten angegriffen und die Wahl eines Stadtrathes beanstandet. Die Sache Grandmorin kam gerade zur rechten Zeit, um die Agitation fortzusetzen, man erzählte sich die ungeheuerlichsten Geschichten darüber und die Zeitungen stellten täglich neue, von Injurien gegen die Regierung strotzende Hypothesen auf. Die Einen wollten wissen, daß das Opfer, ein in den Tuilerien gern gesehener Mann, der Kommandeur der Ehrenlegion und mehrfacher Millionär war, sich den niedrigsten Ausschweifungen hingegeben hatte; die Anderen, daß die Untersuchung nichts herausbringen könne; man begann sogar die Polizei und die Behörden käuflicher Bestechlichkeit zu zeihen und machte sich über den verschollen bleibenden, geheimnißvollen Mörder lustig. Es lag ja viel Wahres diesen Beschuldigungen zu Grunde, um so unangenehmer war es, sie ertragen zu müssen.
    Auch Herr Denizet fühlte sehr wohl, welche schwere Verantwortlichkeit auf ihm ruhte. Er nahm sich der Sache um so leidenschaftlicher an, als er sehr ehrgeizig war und sehnsüchtig eine Aufsehen machende Untersuchung herbeigewünscht hatte, um seine bisher nur von ihm sich selbst zugestandene hohe Begabung, was Energie und Scharfblick anbetraf, zur Kenntniß aller Welt zu bringen. Sohn eines normandisischen reichen Züchters hatte er in Laon die Rechte studirt und war erst spät in den Richterstand eingetreten, wo seine bäurische Herkunft, verschlimmert durch das Fallissement seines Vaters, seinem Emporsteigen sehr hinderlich war. Zunächst Substitut in Bernay, Dieppe und Havre hatte er zehn Jahre gebraucht, um kaiserlicher Prokurator in Pont-Audemer zu werden. Dann wurde er nach Rouen abermals als Substitut versetzt, wo er jetzt in seinem fünfzigsten Lebensjahr seit achtzehn Monaten Untersuchungsrichter war. Ohne Vermögen, aber reich an Bedürfnissen, deren Befriedigung seine mageren

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