Die Bestie im Menschen
Camy-Lamotte in eigenthümlicher Weise von Frau Roubaud gesprochen hatte, der er einst bei dem Präsidenten noch vor ihrer Verheirathung begegnet war. Und doch wie viele Unwahrscheinlichkeiten, wie viele materielle und moralische Unmöglichkeiten auch hier! Seit er den Gang der Untersuchung in diesem Sinne leitete, stieß er bei jedem Schritt auf Thatsachen, die seinen Entwurf einer wahrhaft klassisch erdachten gerichtlichen Untersuchung wieder über den Haufen warfen. Alles blieb dunkel wie zuvor, die große, zu Grunde zu liegende Klarheit, die Grundursache des Mordes, die, wenn gefunden, alles erhellen mußte, fehlte.
Es gab allerdings auch noch eine zweite, von Roubaud selbst angelegte Fährte, die des Mannes, der in dem Gedränge möglicher Weise ungesehen in das Koupee gelangt war; Herr Denizet hatte sie nicht außer Acht gelassen. Es war das der famose, nicht ausfindig zu machende, sagenhafte Mörder, den die Oppositionspartei als Trumpf ausspielte. Die Untersuchung machte alle Anstrengungen, das Signalement dieses Menschen zu erhalten, der von Rouen aus abgereist und in Barentin ausgestiegen sein mußte. Aber es war nichts genaues zu ermitteln gewesen, einige Zeugen leugneten selbst die Möglichkeit, daß ein reservirtes Koupee im Sturme genommen werden könne, andere machten die widersprechendsten Aussagen. Die Fährte schien zuerst nichts zu erbringen. Da stieß bei der Vernehmung des Bahnwärters Misard der Richter, ohne es gewollt zu haben, auf das tragische Abenteuer von Louisette und Cabuche, dieses Kindes, das, vom Präsidenten vergewaltigt, zu seinem guten Freunde sterben kam. Das war für ihn der Blitzstrahl der Erleuchtung, mit einem Schlage bildete sich in seinem Kopfe der Act einer klassischen Anklage. Da war ja, was er brauchte: die von dem Kärrner gegen das Opfer ausgestoßenen Drohungen, daß er ihn todtschlagen wollte, klägliche Antecedentien, ein ungeschickt vorgebrachtes und unmöglich aufrecht zu erhaltendes Alibi. Er hatte in einer Anwandlung von willensstarker Inspiration am Abend vorher Cabuche in seinem Häuschen mitten im Walde, das mehr einer abseits gelegenen Höhle ähnelte, verhaften lassen. Man hatte dort auch einen blutigen Pantoffel gefunden. So sehr Herr Denizet sich auch vornahm, seine feste Ueberzeugung nicht fallen zu lassen, so fest er sich es auch versprach, die auf die Roubaud zielende Möglichkeit noch mehr zu kräftigen, so war er doch außer sich bei dem Gedanken, daß er die einzige feine Nase gewesen, die den wirklichen Schuldigen entdeckt hätte. Um sich Gewißheit zu verschaffen, hatte er mehrere schon am Tage nach dem Morde vernommene Zeugen an dem genannten Tage in sein Kabinet entboten.
Der Untersuchungsrichter hauste nach der Rue Jeanne d’Arc hinaus in dem alten verfallenen Gebäude neben dem alten Palast der Herzöge in der Normandie, welchen es verunstaltete. Heute steht dort ein palastartiges Gerichtsgebäude. Der im Erdgeschoß gelegene große Raum wurde vom Tageslicht nur so nothdürftig erhellt, daß im Winter schon von drei Uhr an Licht gebrannt werden mußte. Er war mit einer alten verblichenen Tapete, zwei Fauteuils, vier Stühlen, einem Arbeitstische des Richters und einem kleineren für den Schreiber ausstaffirt. Auf dem ungeheizten Kamine glänzten zwei Bronzekannen neben einer Uhr aus schwarzem Marmor. Hinter dem Schreibtische führte eine Thür in ein zweites Gemach, in welchem der Richter öfter zu seiner Disposition zurückgehaltene Personen verbarg. Die Entreethür öffnete sich dann auf den großen, mit Bänken für wartende Zeugen besetzten breiten Corridor.
Obgleich die Vorladung erst auf zwei Uhr lautete, warteten die Roubaud schon seit halb zwei. Sie kamen von Havre und hatten sich kaum die Zeit genommen, in einem kleinen Restaurant der Grande Rue zu frühstücken. Beide schwarz gekleidet, er im Ueberrock, sie in Seide wie eine große Dame trugen eine etwas lässige Würde und den Kummer von Leuten zur Schau, die einen Verwandten verloren haben. Sie saß unbeweglich und stumm auf einer Bank, wahrend er stehen geblieben war und mit auf den Rücken gefalteten Händen mit kleinen Schritten vor ihr auf und ab ging. Aber so oft er umkehrte, begegneten sich die Blicke Beider und ihre heimliche Angst huschte dann wie ein Schatten über ihr stummes Gesicht. Die Erbschaft von la Croix-de-Maufras hatte sie sehr erfreut, machte sie aber zugleich auch sehr besorgt, denn die Familie des Präsidenten, vor Allem seine Tochter war geradezu außer
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