Die Bestie im Menschen
nicht grämten … Das ist wohl alles, mein Herz, nicht wahr?«
»Ja, es ist wohl alles.«
Dieser Bericht, so einfach er lautete, hatte doch Eindruck auf das Auditorium gemacht. Alle lauschten mit offenem Munde auf das, was noch kommen sollte. Der Commissär hörte auf zu schreiben und gab der allgemeinen Ueberraschung durch die Frage Ausdruck:
»Und Sie sind überzeugt, daß sich im Koupee des Herrn Grandmorin Niemand befand?«
»Ich bin davon überzeugt.«
Ein Zittern durchlief die Menge. Diese geheimnißvolle That trug in ihren Fittichen die Furcht und Jeder fühlte ein gelindes Frösteln über seinen Nacken kriechen. Wenn sich der Reisende in der That allein befand, wer konnte ihn ermordet und drei Meilen weiter noch vor der nächsten Haltestation zum Fenster hinausgeworfen haben?
Die böswillige Stimme Philomènes brach zuerst das Schweigen.
»Eigenthümlich bleibt die ganze Sache.«
Roubaud fühlte ihren Blick auf sich ruhen und sah sie, mit dem Kopfe zuckend, ebenfalls an, als wollte er damit ausdrücken, daß auch er die Sache eigenthümlich fände. Neben jener standen Pecqueux und die Lebleu, die ebenfalls den Kopf schüttelten. Aller Augen hatten sich ihm zugewandt, man wartete noch auf etwas Anderes, man suchte an ihm eine vergessene Einzelheit, die Licht in den Vorfall bringen konnte. In diesen gierigen Blicken lag keine Anklage. Trotzdem schienen sie ihm verdächtig, er las aus ihnen eine leise Verdächtigung, einen Zweifel, den die kleinste Ursache in Gewißheit verwandeln konnte.
»Außergewöhnlich,« murmelte Herr Cauche.
»Ganz außergewöhnlich,« wiederholte Herr Dabadie.
Roubaud hatte sich inzwischen zu etwas entschlossen.
»Ich weiß ferner noch ganz genau, daß der Eilzug, der zwischen Rouen und Barentin nicht hält, mit seiner regulären Schnelligkeit fuhr. Ich habe nichts Unregelmäßiges entdeckt. Ich sage das, weil ich die Scheibe heruntergelassen hatte, sobald wir uns allein befanden, um eine Cigarrette zu rauchen. Ich blickte von Zeit zu Zeit hinaus und lauschte auf den Lärm, den der Zug machte. Nichts Verdächtiges war zu hören. In Barentin sah ich den Vorsteher, Herrn Bessière, meinen Nachfolger, auf dem Perron stehen; ich rief ihn heran und wir wechselten drei Worte. Er stieg sogar auf das Trittbrett, um mir die Hand zu schütteln … So war es doch, Frau? Uebrigens kann ja Herr Bessière gefragt werden, er wird es bestätigen.«
Séverine mit ihrem noch immer bleich und unbeweglich starrenden, in Kummer getauchten Antlitz bestätigte auch diesmal die Aussage ihres Gatten.
»Ja er wird es bestätigen.«
Jeder Schein von Verdacht war nun abgewendet, da die Roubaud in Rouen ihr Koupee wieder bestiegen hatten und in demselben in Barentin von einem Freunde angetroffen waren. Der Schatten von Argwohn, den Roubaud in den Blicken der Umstehenden zu lesen geglaubt hatte, war verflogen; das Erstaunen wuchs. Die Angelegenheit nahm eine immer geheimnißvollere Wendung.
»Und Sie wissen es genau,« fragte der Commissär, »daß in Rouen Niemand in das Koupee von Herrn Grandmorin gestiegen ist, nachdem Sie ihn verlassen hatten?«
Roubaud hatte ersichtlich diese Frage nicht vorausgesehen, denn zum ersten Male war er verwirrt, er hatte sich die Antwort hierauf vorher eben nicht zurechtlegen können. Er blickte zögernd seine Frau an.
»Ich glaube nicht … Die Thüren wurden geschlossen, die Maschine pfiff, mir hatten gerade noch Zeit zu unserm Koupee zu gelangen … Uebrigens war das Koupee des Herrn Grandmorin reservirt, wie mir scheint, es konnte also Niemand dort einsteigen …«
Die Augen seiner Frau veränderten sich und blickten fürchterlich groß, sie schien erschreckt über die Sicherheit seiner Behauptung.
»Im Uebrigen, weiß ich es nicht. –Ja, vielleicht ist noch Jemand zu ihm eingestiegen. –Es war dort ein großes Gedränge …«
Je länger er sprach, desto klarer wurde seine Stimme, diese neue Geschichte, die in ihm auftauchte, klang überzeugend.
»In Folge des Festtages in Havre war die Menge auf dem Perron eine gewaltige … Wir mußten unser Koupee gegen Reisende der zweiten, selbst der dritten Klasse vertheidigen … Der Bahnhof ist auch so mangelhaft beleuchtet, daß man kaum etwas sehen konnte, man stieß sich und schrie durcheinander vor der Abfahrt … Es ist ja in der That möglich, daß Jemand, der nicht wußte, wo er unterkommen sollte oder Jemand, der den Andrang benutzte, noch in der letzten Sekunde sich mit Gewalt Eintritt in das Koupee
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