Die Bestie im Menschen
sich über diese befremdlichen Legate, die so zahlreich waren, daß sie fast die Hälfte des ganzen Vermögens beanspruchten. Sie sprach davon, dieses Testament angreifen zu wollen. Gegen ihre ehemalige Freundin Séverine benahm sich Frau von Lachesnaye, die von ihrem Gatten aufgehetzt wurde, ganz besonders hartherzig, sie überhäufte jene mit den schlimmsten Verdächtigungen. Außerdem jagte ihn der Gedanke an ein belastendes Moment, an das Roubaud zuerst garnicht gedacht, unausgesetzt in Furcht: es war das der Brief, den er seine Frau hatte schreiben lassen, um den Präsidenten Grandmorin zur Abreise zu veranlassen. Dieser Brief mußte sich noch vorfinden, falls er nicht gleich vernichtet worden war und die Schreiberin konnte aus der Handschrift ermittelt werden.
Die Tage verstrichen, bis jetzt war glücklicher Weise nichts entdeckt worden, der Brief schien in der That vom Präsidenten zerrissen worden zu sein. Aber jede neue Vorladung vor den Untersuchungsrichter war für das verbrecherische Ehepaar nichtsdestoweniger eine Ursache kalten Schweißes unter ihrer sonst correcten Haltung als Zeugen und Erben.
Es schlug zwei Uhr, jetzt kam Jacques, und zwar von Paris. Sofort ging Roubaud ihm entgegen und streckte ihm die Hand hin.
»Sie auch hier, auch Sie hat man wieder belästigt? … Ist diese traurige Geschichte langweilig. Man kommt damit nicht zu Stande.«
Als Jacques die noch immer unbeweglich dasitzende Séverine erblickte, blieb er stehen. Sei drei Wochen überhäufte ihn der Unter-Inspector, so oft er an jedem zweiten Tage in Havre eintraf, mit Aufmerksamkeiten. Einmal hatte er sogar eine Einladung zum Mittagessen annehmen müssen. Und als er neben der jungen Frau saß, hatte er in wachsender Verwirrung wieder den alten Schauer gefühlt. Also auch sie wollte er morden? Sein Herz schlug, seine Hände brannten, als er nur die weiße Linie ihres Halses über dem Kragen des Kleides erblickte. Er war deshalb fest entschlossen, ihr aus dem Wege zu gehen.
»Was sagt man zu der Geschichte in Paris?« fragte Roubaud. »Nichts neues, nicht wahr? Man weiß eben nichts und wird nie etwas herausbekommen … So sagen Sie doch meiner Frau wenigstens guten Tag!«
Er zog ihn zu ihr, Jacques mußte sich ihr also nähern; er grüßte und Séverine lächelte genirt ihn nach Art scheuer Kinder an. Er zwang sich, von unbedeutenden Dingen zu sprechen, während die Augen von Mann und Frau auf ihm ruhten, als versuchten sie, hinter seinen Gedanken, in den wirren Träumen zu lesen, an die er selbst nicht zu denken wagte. Warum benahm er sich so kühl? Warum suchte er sie zu meiden? Waren seine Erinnerungen wieder wach geworden, hatte man sie zu einer Confrontation mit ihm herbeigerufen? Er war der einzige Zeuge, den sie fürchteten, ihn mußten sie mit den Banden so enger Brüderschaft an sich zu fesseln suchen, daß er nicht mehr den Muth haben durfte, gegen sie zu zeugen.
Der gequälte Unter-Inspector kam zuerst auf die Sache, selbst zurück.
»Sie wissen auch nicht, warum wir vorgeladen sind? Vielleicht hat man etwas Neues entdeckt?«
Jacques schien es gleichgültig.
»Als ich vorhin ankam, sprach man auf dem Bahnhofe von einer Verhaftung.«
Die Roubaud staunten, nicht wenig über diese Mittheilung betroffen. Wie, eine Verhaftung? Davon hätten sie nichts gehört! War dieselbe schon erfolgt oder sollte sie noch geschehen? Sie bestürmten ihn mit Fragen, auf die er keine Antwort zu geben wußte.
In diesem Augenblick hörte man im Korridor das Geräusch sich nähernder Schritte. Séverine wandte ihr Gesicht nach dieser Richtung.
»Berthe und ihr Mann,« sagte sie leise.
Es waren in der That die Lachesnaye. Sie gingen stolz an den Roubaud vorüber, die junge Frau hatte keinen einzigen Blick für ihre Genossin. Ein Gerichtsdiener führte sie sofort in das Zimmer des Untersuchungsrichters.
»Wir müssen uns noch in Geduld fassen,« meinte Roubaud. Wir sind schon gut zwei Stunden hier … Setzen Sie sich doch.«
Er setzte sich links von Séverine und lud Jacques durch eine Handbewegung ein, auf der andern Seite seiner Frau Platz zu nehmen. Dieser folgte nicht sofort der Aufforderung. Als ihn aber ihre sanften, furchtsamen Blicke trafen, ließ er sich auch auf die Bank nieder. Wie zerbrechlich sie zwischen Beiden aussah! Er witterte ihre unterwürfige Zärtlichkeit; die leichte Wärme, die diese Frau ausstrahlte, betäubte ihn während des langen Wartens mehr und mehr, schließlich gänzlich.
Inzwischen hatte im Zimmer
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