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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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des Richters die Verhandlung begonnen. Der Gang der Untersuchung hatte schon ein mächtiges Actenbündel gezeitigt, mehrere in blaue Deckel geheftete Stöße Papier. Man hatte versucht, dem Opfer von Paris aus zu folgen. Der dortige Bahnhofsvorsteher, Herr Vandorpe, hatte ausgesagt, daß der Waggon 293 im letzten Augenblicke dem Zuge angehängt worden wäre, was er mit Roubaud gesprochen, daß dieser kurz vor Ankunft des Präsidenten in sein Koupee gestiegen sei und auch wie der Letztere seinen Platz gefunden hätte; das Koupee des Präsidenten sei zweifellos von keiner anderen Person betreten worden. Der Zugführer sollte aussagen, was während des zehnminütigen Aufenthalts in Rouen passirt wäre. Er konnte garnichts fest behaupten. Er hatte die Roubaud plaudernd vor ihrem Koupee stehen gesehen und mußte annehmen, daß sie dieses wieder bestiegen hatten, als der Beamte die Thüren zuwarf. Aber auch das wollte er in dem herrschenden Halbdunkel und bei dem Gedränge der Menge dahingestellt sein lassen. Er glaubte nicht an die abenteuerlich klingende Vermuthung, daß ein Mann, der famose unauffindbare Mörder, gerade als der Zug sich in Bewegung setzte, das Koupee habe öffnen können; aber es wäre ja trotzdem immerhin möglich. Soweit seine Kenntnisse reichten, war schon zweimal ähnliches geschehen. Andere Beamte vom Bahnhof in Rouen hatten durch ihre widersprechenden Aussagen über gewisse Punkte die Sache mehr verwickelt als erleuchtet. Eine beglaubigte Thatsache aber war der Händedruck, den Roubaud aus seinem Koupee heraus mit dem Bahnhofsvorsteher in Barentin, Herrn Bessière, wechselte, der zu diesem Zwecke auf das Trittbrett gestiegen war. Dieser hatte die Aussage Roubaud’s in allen Theilen bestätigt und hinzugefügt, daß sein Kollege sich mit seiner Frau allein im Koupee befunden habe, die, halb angelehnt, ruhig zu schlummern schien. Dann hatte man die Reisenden ausfindig zu machen gesucht, die von Paris aus mit den Roubaud in einem Koupee gefahren waren. Die dicke Frau und der dicke Mann, Bürger aus Petit-Couronne, die im letzten Augenblick gekommen waren, hatten ausgesagt, daß sie sofort eingeschlafen wären und daher von nichts wüßten. Die schwarze Frau, die stumm in ihrer Ecke gesessen hatte, war verschwunden wie ein Schatten, ganz unmöglich, ihrer wieder habhaft zu werden. Andere Zeugen hatten über die Identität der in Barentin ausgestiegenen Reisenden aussagen müssen, denn der Mörder mußte dort den Zug verlassen haben: man hatte die Billets nachgezählt, man hatte sogar alle Reisenden wieder erkannt bis auf einen, einen großen Schlingel, der den Kopf mit einem blauen Tuche umwickelt getragen hatte und den die Einen mit einem Paletot, die Anderen mit einer Blouse bekleidet gesehen haben wollten. Auch dieser, wie ein Traum verflogener Mann, war nicht wieder zu eruiren. Dreihundert Stücke enthielt bereits das Actenbündel und nur diese unmäßige Menge hatte die Confusion herbeigeführt, denn jedes neue Zeugniß hob ein anderes wieder auf.
    Und das Actenbündel erhielt auch noch andere Beläge: das vom Schreiber aufgenommene Protokoll über den Thatbestand, wie er vom kaiserlichen Prokurator und dem Untersuchungsrichter an dem Fundort des Verbrechens festgestellt worden war; es war das eine umfangreiche Beschreibung der Stelle neben den Geleisen, wo das Opfer gelegen, der Lage des Körpers, der Kleidung, der in den Taschen gefundenen Gegenstände, durch welche die Identität des Ermordeten hatte festgestellt werden können; dann den Befund des gleichfalls an den Schauplatz mitgenommenen Arztes, ein Actenstück, in welchem mit vielen medizinischen Ausdrücken die Wunde am Halse ausführlich beschrieben wurde, diese eine Wunde, ein fürchterlicher, zweifellos mit einem scharf schneidenden Instrumente, wahrscheinlich einem Messer gemachter Stich; ferner noch Protokolle über die Ueberführung der Leiche in das Hospital von Rouen, über die Zeit, die sie dort geblieben, bis die merkwürdige schnelle Zersetzung eine Auslieferung an die Familie nothwendig machte. Aber in diesem ganzen Berg von Schriftstücken waren nur zwei oder drei Punkte ernstlich zu berücksichtigen. Erstens hatte man in den Taschen des Ermordeten weder die Uhr noch eine Portefeuille gefunden; letzteres hatte zehntausend Franken enthalten, welche Summe der Präsident seiner Schwester, Frau Bonnehon schuldete und die sie erwartete. Man hätte also zweifellos sofort auf einen Raubmord geschlossen, wenn der Mörder nicht

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