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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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einen mit einem mächtigen Brillanten geschmückten Ring am Finger des Opfers gelassen hätte. Aus diesem Umstande ergab sich eine ganze Menge von Möglichkeiten. Auch besaß man unglücklicher Weise nicht die Nummern der Banknoten, dagegen war die Uhr bekannt, eine sehr starke Remontoiruhr mit den verschlungenen Initialen des Namens des Präsidenten auf der äußeren Kapsel und auf der innern Seite derselben mit der Chiffre des Fabrikanten und der Fabriknummer 2546. Der zweite bedeutsame Punkt war, daß die Waffe, das Messer, dessen sich der Mörder bedient hatte, zu umfassenden Recherchen längs der Strecke, in den Gebüschen, überall dort, wo er es möglicher Weise hätte fortwerfen können, Veranlassung gegeben hatte. Aber sie waren vergeblich gewesen, der Mörder mußte das Messer in demselben Loche versteckt haben wie die Uhr und das Geld. Man hatte nichts weiter aufgefunden als ungefähr hundert Meter vor der Station Barentin die Reisedecke des Opfers, die als ein compromittirender Gegenstand dort zurückgelassen worden war. Sie figurirte jetzt unter dem Belastungsmaterial.
    Als die Lachesnaye eintraten, las Herr Denizet vor seinem Schreibtische stehend gerade eines der ersten Untersuchungsprotokolle noch einmal durch, welches ihm der Schreiber soeben herausgesucht hatte. Herr Denizet war ein kleiner, untersetzter, schon ergrauender Mann, mit glattrasirtem Gesicht. Die starken Backen, die quadratische Stirn, die kräftige Nase zeigten eine starre, bleiche Farbe, deren Eindruck die schweren, die klar blickenden, großen Augen halb verdeckenden Augenlider noch erhöhten. Seine ganze sich selbst zugeschriebene Weisheit und Geschicklichkeit verrieth die Mundparthie; Herr Denizet besaß den Mund eines Schauspielers, der jedes Gefühl mit außerordentlicher Geschicklichkeit an dieser Stelle zum Ausdruck bringt, der ihn zuspitzt, so oft er etwas Feines sagen will. Meistens aber verleitete den Richter seine Finesse; er war zu schlau, er spielte mit der einfachen, gesunden Wahrheit viel zu viel Versteckens. Er hat sich von seinem Berufe ein Ideal gebildet, er führte seine Thätigkeit als eine Art moralischer Anatom aus, der mit einem hochgeistigen zweiten Gesicht begabt war. Er war im Uebrigen aber nichts weniger als ein Dummkopf.
    Er spielte sofort den Liebenswürdigen, denn auch er gehörte zu den Beamten, den die gute Gesellschaft von Rouen und Umgegend gern bei sich sah.
    »Wollen Sie nicht Platz nehmen, gnädige Frau?«
    Er rückte der jungen Frau selbst einen Stuhl hin. Frau von Lachesnaye war eine nüchterne, in Trauer gehüllte Blondine mit einem unangenehmen, häßlichen Gesicht. Auch zu Herrn von Lachesnaye, einem ebenfalls blonden, abgezehrten Herrn, war er sehr höflich, nur etwas mehr von oben herab. Denn dieses Männchen, der, erst sechsunddreißig Jahre alt, bereits Gerichtsrath und dekorirt war, Dank dem Einflusse seines Schwiegervaters und Vaters, der, gleichfalls Gerichtsbeamter, früher in den gemischten Commissionen gesessen hatte, stellte in seinen Augen den nach Gunst haschenden Beamten, das reiche Beamtenthum, den mittelmäßigen Geist vor, der aber weiß, daß er mit Hilfe seiner Verwandten und seines Geldes Carriere machen wird; er dagegen, arm und ohne Protektion, mußte unter dem unaufhörlich zurückfallenden Steine des Avancements für immer seinen Rechtspflegerrücken krümmen. Er war deshalb garnicht so böse, Herrn von Lachesnaye seine Allmacht in diesem engen Kabinet, daß er hier der unumschränkte Gebieter über alle sei, fühlen zu lassen. Der Zeuge brauchte nur ein einziges verdächtiges Wort zu sagen und, wenn es ihm beliebte, wurde er unverzüglich festgenommen.
    »Sie verzeihen, gnädige Frau, sagte er, »daß ich Sie noch einmal mit dieser schmerzlichen Geschichte quäle. Aber ich weiß, daß Sie ebenso lebhaft als ich Klarheit hierüber haben und den Schuldigen bestraft sehen wollen.«
    Er gab dem Schreiber, einem großen, gelbgesichtigen, knochigen Menschen ein Zeichen und die Verhandlung begann.
    Aber schon nach den ersten an seine Frau gerichteten Fragen bemühte sich Herr von Lachesnaye, der ebenfalls sich gesetzt hatte und sah, daß man seiner Person keine Achtung schenkte, an deren Stelle zu treten. Er freute sich, seine Galle über das Testament seines Schwiegervaters hier von sich geben zu können. War so etwas erhört! Was bedeuteten diese zahlreichen Legate, die fast die Hälfte der ganzen Hinterlassenschaft absorbirten, eines Vermögens von circa drei Millionen

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