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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Waggons von einander trennten, gewechselt haben und das während der wenigen Minuten der Fahrt von Rouen nach Barentin, denn der Zug war ein Eilzug. Ist das anzunehmen? Ich habe Lokomotivführer und Zugführer gefragt. Alle sagten mir, nur die tägliche Gewohnheit allein könnte solche Kaltblütigkeit und Energie verleihen … Die Frau wäre dann jedenfalls nicht bei der Mordthat zugegen gewesen, der Mann müßte sie gerade ohne sie gewagt haben. Aber warum, warum einen Beschützer tödten, der ihm soeben erst aus einer bedenklichen Klemme geholfen hatte? Nein, nein, entschieden nicht! Diese Voraussetzung läßt sich nicht aufrecht erhalten, wir müssen an andrer Stelle suchen … Es giebt vielleicht einen Mann, der in Rouen eingestiegen und auf der nächsten Station ausgestiegen ist, der vielleicht Drohungen gegen das Opfer ausgestoßen hat …«
    In seiner Leidenschaft hätte er fast zu viel von seinem neuen System gesagt, als plötzlich die Thür sich öffnete und sich der Kopf des Gerichtsdieners durch die Spalte drängte. Aber noch ehe dieser ein Wort gesprochen hatte, öffnete eine behandschuhte Frauenhand die Thür vollständig und eine Blondine in sehr eleganter Trauerkleidung trat ein, eine trotz ihrer fünfzig Jahre noch schöne Frau von der gesättigten und vollen Schönheit einer gealterten Göttin.
    »Ich bin es, mein lieber Richter. Ich habe mich verspätet, doch werden Sie mich hoffentlich entschuldigen? Die Wege sind heute nicht zu passiren, aus den drei Meilen bis Doinville sind heute sechs geworden.«
    Herr Denizet hatte sich galant erhoben.
    »Sie befinden sich wohlauf seit dem letzten Sonntag verehrte Frau?«
    »Sehr wohl. Und Sie, mein lieber Richter, haben Sie sich von dem Schrecken erholt, den Ihnen mein Kutscher bereitet hat? Der Bursche hat mir erzählt, daß er Sie auf der Rückkehr nur zwei Kilometer vom Schloß entfernt beinahe umgeworfen hätte.«
    »O, nur ein bloßer Anprall, ich weiß garnichts mehr davon … Ich bitte, nehmen Sie Platz und verzeihen Sie mir, wie ich soeben auch zu Frau von Lachesnaye sagte, wenn ich Ihren Schmerz über diese abscheuliche Angelegenheit noch einmal wachrufen muß.«
    »Mein Gott, wenn es sein muß … Guten Tag, Berthe, guten Tag, Lachesnaye.«
    Das war Frau Bonnehon, die Schwester des Ermordeten. Sie umarmte ihre Nichte und drückte deren Mann die Hand. Seit dreißig Jahren war sie Wittwe. Ihr Mann, ein Industrieller, hatte ihr zu ihrem eigenen Reichthum noch ein großes Vermögen hinterlassen. Bei der Theilung mit ihrem Bruder fiel ihr die Domaine Doinville zu. Dort führte sie ein angenehmes Leben voller Herzensromane, wie man sich erzählte, doch ihr Benehmen war ein so correctes und ehrlich freimüthiges, daß sie die Königin der Gesellschaft von Rouen geblieben war. Ihre Freunde erwählte sie sich, durch die Umstände, Vielleicht auch durch den Zug des Herzens genöthigt, aus dem Beamtenstand; in ihrem Schlosse empfing sie den gesammten Richterstand von Rouen und ihre Wagen führten ihr ununterbrochen Gäste aus diesen Kreisen zu. Selbst jetzt schlug ihr Herz noch immer stürmisch; man hatte sie im Verdacht mütterlicher Zuneigung zu einem jungen Substituten, dem Sohne eines Hofrathes, Herrn Chaumette; sie arbeitete an der Beförderung des Sohnes und überhäufte den Vater mit Einladungen und Aufmerksamkeiten. Auch besaß sie noch von alten Zeiten her einen guten Freund, ebenfalls Gerichtsrath und Junggeselle, Herrn Desbazeilles, den litterarischen Stolz von Rouen, dessen sein gedrechselte Sonnets man allenthalben citirte. Jahrelang hatte er in Doinville sein eigenes Zimmer gehabt. Jetzt, obwohl er die sechzig schon überschritten erschien er noch immer als alter Kamerad zu den Diners, den die Gicht nur noch die Erinnerung an vergangene Freuden gestattete. Sie wahrte sich ihre königliche Herrschaft trotz des drohend herannahenden Alters durch ihre liebenswürdige Grazie und Niemand dachte daran, ihr dieselbe streitig zu machen. Seit dem letzten Winter allerdings hatte sie eine Rivalin in Frau Leboucq, der Gattin eines Rathes, einer großen, in der That sehr schönen brünetten Dame von zweiunddreißig Jahren, die viele Herren des Beamtenstandes zu fesseln verstand. Dieser Umstand allein konnte etwas Melancholie in ihre sonst ewig heitere Laune mischen.
    »Wenn Sie also gestatten, meine verehrte Frau,« sagte Herr Denizet, »möchte ich auch Ihnen einige Fragen vorlegen.«
    Das Verhör der Lachesnaye war beendet, doch er verabschiedete sie noch

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