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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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wiederholte, daß die Todtschlagsscene für ihn nur eine in knapp einer Sekunde erblickte Vision, ein so flüchtiges Bild wäre, daß es völlig formenlos und ganz losgelöst in seiner Erinnerung hafte. Es war eben ein Mann gewesen, der einen zweiten abschlachtete, nichts mehr. Eine halbe Stunde hindurch quälte ihn der Richter mit einer schleichenden Hartnäckigkeit und legte ihm die gleiche Frage in allen möglichen Variationen vor: war er groß, war er klein, hatte er einen Bart, hatte er lange oder kurze Haare, wie war er gekleidet, welcher Gesellschaftklasse schien er anzugehören? Und Jacques konnte in seiner Verwirrung nur konfuse Antworten geben.
    »Nun, würden Sie ihn wiedererkennen,« fragte schließlich Herr Denizet brüsk und sah ihn scharf an, »wenn man ihn Ihnen zeigte.«
    Ein Angstgefühl, hervorgezaubert durch diesen sich in sein Gehirn bohrenden Blick ließ ihn die Augenlider niederschlagen. Er fragte sein Gewissen laut um Rath.
    »Ihn wiedererkennen … ja … vielleicht.«
    Aber schon trieb ihn seine befremdliche Furcht vor einer unbewußten Mitschuld wieder seinem Ausfluchtssystem in die Arme.
    »Trotzdem, nein, ich glaube nicht, ich könnte meine Behauptung nie als feststehend betrachten. Bedenken Sie doch! Eine Schnelligkeit von achtzig Kilometern in der Stunde!«
    Mit einer Bewegung der Entmuthigung nöthigte ihn der Richter zum Sitzen, um ihm Zeit zu lassen, sich eines Bessern zu besinnen.
    »Bleiben Sie hier und setzen Sie sich.«
    Er klingelte abermals dem Diener:
    »Lassen Sie Herrn und Frau Roubaud eintreten.«
    Gleich, als sie in die Thür traten, bemerkten sie Jacques, beunruhigt begegneten sich ihre Augen. Hatte er gesprochen, hielt man ihn zurück, um ihn mit ihnen zu konfrontiren? Alle ihre Sicherheit entfloh, als sie Jenen noch anwesend fanden. Sie antworteten zuerst auch mit umflorter Stimme. Der Richter aber ging nur ihr erstes Verhör nochmals durch, sie brauchten nur dieselben identischen Sätze zu wiederholen, während er mit gesenktem Haupte, ohne sie anzusehen, zuhörte.
    Plötzlich wandte er sich an Séverine.
    »Sie haben dem Polizeicommissär, der mir das Protokoll hier übersandt hat, erzählt, Madame, daß in Rouen ein Mann in das Koupee gestiegen sei, gerade als sich der Zug in Bewegung setzte.«
    Sie war betroffen. Warum kam er darauf zurück? War das eine Falle? Wollte er sie zum Widerspruch gegen ihre erste Aussage verleiten? Sie blickte hilflos ihren Mann an und dieser kam ihrer Antwort klug zuvor.
    »Ich glaube nicht, Herr Richter, daß sich meine Frau so bestimmt geäußert hat.«
    »Bitte um Verzeihung … Ihre Frau hat von einer Möglichkeit dieses Factums nichts, dagegen gesagt: »Es muß als gewiß betrachtet werden, daß …« Nun gut, Frau Roubaud, ich wünsche zu wissen, welch einen besonderen Grund Sie hatten, so zu sprechen.«
    Sie wurde nun vollends wirr, sie fühlte, daß wenn sie sich jetzt widerspräche, er sie Antwort für Antwort widerlegen und ihr ein Geständniß entreißen würde. Aber antworten mußte sie.
    »O, Herr Richter, keinen besonderen Grund … Ich habe das auf Grund bloßer Ueberlegung gesagt, weil es in der That schwierig ist, sich die ganze Sache anders zu denken.«
    »Sie selbst haben also einen Mann nicht gesehen, Sie können uns über ihn keine Aufschlüsse geben?«
    »Nein, durchaus keine!«
    Herr Denizet schien diesen Punkt fallen zu lassen. Er kam aber, zu Roubaud gewandt, sofort darauf zurück.
    »Und wie kommt es, daß Sie diesen Mann nicht gesehen haben, wenn er wirklich in das Koupee gestiegen ist? Aus Ihrer Aussage erhellt, daß Sie noch mit dem Opfer sprachen, als die Lokomotive schon zur Abfahrt pfiff?«
    Dieses Drängen erschreckte den Unter-Inspector vollends. Vor Angst wußte er nicht, was thun, sollte er den Strohmann fallen lassen oder ihn aufrecht erhalten. Wenn man gegen ihn Beweise hatte, so war die Voraussetzung eines unbekannten Mörders kaum beizubehalten, sie konnte sogar den Fall verschlimmern. Vorläufig wollte er sich auf das Abwarten verlegen und gab deshalb konfuse Erklärungen ab.
    »Es ist in der That ärgerlich,« meinte Herr Denizet, »daß Ihr Gedächtniß so schwach ist, denn Sie gerade könnten uns helfen, die Verdächtigung vieler Personen auf einen Einzigen zu konzentriren.«
    Das schien direct auf Roubaud gemünzt, der sich sofort beeilte, sich rein zu waschen. Er sah sich entdeckt und sein Entschluß stand nun fest.
    »Sie werden doch begreifen, daß man, wo das Gewissen so sehr mitspricht,

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