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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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zögert, nichts natürlicher. Wenn ich Ihnen auch sage, ja, ich glaube wohl den Mann gesehen zu haben, so …«
    Der Richter konnte seinen Triumph nicht verbergen, glaubte er doch Jenem durch seine Geschicklichkeit die Zunge gelöst zu haben. Er meinte die befremdliche Angst so mancher Zeugen, zu sagen, was sie wüßten, aus Erfahrung zu kennen und schmeichelte sich. Jene jetzt gegen ihren Willen zur Aussage gezwungen zu haben.
    »So reden Sie … Wie sieht er aus? Klein, groß, so von Ihrer Statur?«
    »Bewahre, viel größer … Ich habe wenigstens so die Empfindung, ich glaube dieses Individuum gestreift zu haben, als ich zu meinem Waggon zurückeilte.«
    »Einen Augenblick,« sagte Herr Denizet.
    Und sich an Jacques wendend, fragte er:
    »Der Mann, den Sie mit dem Messer in der Hand gesehen haben, war er größer als Herr Roubaud?«
    Der Lokomotivführer, der schon ungeduldig wurde, denn er fürchtete den fünf Uhr Zug zu verpassen, erhob prüfend die Augen. Er schien Roubaud vorher nie so recht betrachtet zu haben, er war selbst erstaunt, ihn klein und gedrungen mit einem schon anderswo gesehenen, vielleicht geträumten eigentümlichen Profil zu erblicken.«
    »Nein,« sagte er leise, »er war nicht viel größer, fast in gleicher Statur.«
    Aber der Unter-Inspector protestirte lebhaft.
    »O, wenigstens um einen Kopf größer,«
    Jacques’ weitgeöffnete Augen ruhten auf ihm und unter diesem, eine wachsende Ueberraschung verrathenden Blick krümmte sich Roubaud, als wollte er vor seiner eigenen Aehnlichkeit fliehen. Auch seine Frau folgte stumm und wie zu Eis erstarrt der schwerfälligen Arbeit des Gedächtnisses, die sich auf dem Gesicht des jungen Mannes widerspiegelte. Dieser war erstaunt über gewisse Analogien zwischen Roubaud und dem Mörder und allmählich wurde es in ihm zur Gewißheit, daß dieser der Mörder sei, als solchen hatte ihn das Gerücht auch schon längst beargwöhnt. Diese Entdeckung nahm ihn jetzt vollends gefangen; mit offenem Munde saß er da. Keiner wußte, was jetzt kommen würde. Jacques selbst wußte es nicht einmal. Sprach er, war das Ehepaar verloren. Die Augen Roubaud’s waren den seinen begegnet, beide blickten sich auf den Grund ihrer Seelen. Es trat eine kleine Pause ein.
    »Sie stimmen also nicht überein,« sagte Herr Denizet. »Haben Sie ihn nur klein gesehen, so mag das daher kommen, weil er im Kampfe mit seinem Opfer eine gebückte Stellung einnahm.«
    Auch er beobachtete die beiden Männer. Er hatte garnicht daran gedacht, diese Confrontation auszunutzen; aber mit berufsmäßigen Instinct fühlte er, daß in diesem Augenblick die Wahrheit in der Luft schwebte. Sogar sein Vertrauen zu der Fährte Cabuche gerieth in’s Wanken. Hatten die Lachesnaye wirklich Recht? Waren gegen alle Wahrscheinlichkeit dieser achtbare Beamte und seine sanfte Frau wirklich die Thäter?
    »Hatte der Mann einen Vollbart wie Sie?« fragte er Roubaud.
    Dieser hatte die Kraft, zu antworten, ohne daß seine Stimme zitterte.
    »Einen Vollbart? Nein! So viel ich weiß, hatte er gar keinen Bart.«
    Jacques fühlte, daß ihm dieselbe Frage vorgelegt werden würde. Was sollte er sagen? Er hätte darauf geschworen, daß der Mörder einen Vollbart getragen habe. Im Grunde genommen, was gingen ihn jene Leute an, warum sollte er nicht die volle Wahrheit sagen? Aber als er seine Augen von dem Manne fortwandte, begegnete er denen der Frau. Und in deren Blick las er eine so glühende Bitte, die so völlige Hingabe ihrer ganzen Person, daß er sich wie umgewandelt fühlte. Sein alter Schauder überlief ihn wieder; liebte er Jene, war sie es, die er lieben wollte, wahr lieben sollte ohne den ungeheuerlichen Wunsch ihrer Vernichtung zu empfinden? Eine eigenthümliche Rückwirkung seiner Verwirrung verdunkelte in diesem Augenblick sein Denken, er fand keine Aehnlichkeit mehr zwischen Roubaud und dem Mörder. Die Vision wurde undeutlich, ein so gewichtiger Zweifel beschlich ihn, daß er ewige Reue gefühlt haben würde, wenn er gesprochen hätte. »Hatte der Mann einen Vollbart wie Herr Roubaud?« fragte ihn Herr Denizet.
    »Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, Herr Richter. Es ging alles zu schnell vorüber. Ich weiß nichts und will nichts behaupten.«
    Aber Herr Denizet ging von dem Thema nicht ab, denn er wollte mit dem auf dem Unter-Inspector ruhenden Verdacht ein für alle Male in’s Reine kommen. Er drängte diesen, er drängte den Lokomotivführer und erhielt endlich von Ersterem ein dahingehendes

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