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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Freundes.«
    Herr Camy-Lamotte mußte ihr jetzt wohl oder übel einen Stuhl anbieten –er that es mit einer Handbewegung –denn was sie sagte, war tadellos gesprochen, der Kummer ebenso wie die Demuth darin genau abgewägt, wie eben nur die unnachahmliche Kunst weiblicher Heuchelei es fertig bekommt. Aber er sprach noch immer nicht. Auch er hatte abwartend sich gesetzt. Sie fuhr daher fort in der richtigen Empfindung, daß sie deutlicher werden müsse.
    »Gestatten Sie, daß ich Ihre Erinnerungen etwas unterstütze. Ich hatte die Ehre, Sie seiner Zeit in Doinville zu sehen. Ach, das waren noch glückliche Tage für mich! … Jetzt ist eine schlechte Zeit für mich angebrochen und ich habe keinen weiteren Rückhalt als Sie, verehrter Herr. Ich flehe Sie deshalb an im Namen dessen, den wir verloren haben, führen Sie, da Sie ihn geliebt haben, das von ihm begonnene gute Werk weiter!«
    Er hörte ihr zu, er sah sie an und sein Verdacht war fort. Er fand sie in ihrer Trauer und ihrem Flehen so natürlich und reizend. Das von ihm unter den Papieren Grandmorin’s aufgefundene Billet mit den beiden nicht unterschriebenen Zeilen konnte nach seiner Meinung nur von ihr herrühren, deren dem Präsidenten erwiesene Gefälligkeitener kannte. Und jetzt hatte die bloße Ankündigung ihres Besuches ihn bereits zu bekehren vermocht. Er hatte seine Unterredung mit dem Richter lediglich unterbrochen, um sich Gewißheit zu verschaffen. Aber konnte er sie wirklich für schuldig halten, sie, die er so sanft und friedfertig vor sich sitzen sah? Er wollte jedenfalls ein klares Bild haben und unter voller Bewahrung seiner strengen Würde fragte er:
    »Erklären Sie sich näher, Frau Roubaud … Ich erinnere mich Ihrer ganz genau. Es soll mich freuen. Ihnen nützlich sein zu können, wenn dem nichts im Wege steht.«
    Séverine erzählte nun sehr bedächtig, wie es kam, daß ihrem Gatten eine Entlassung drohe. Man beneide ihn vielfach wegen seiner Verdienste und der hohen Protection, die er bis jetzt genossen hatte. Jetzt glaube man ihn schutzlos, man hoffe zu siegen und mache daher alle Anstrengungen, ihn zu stürzen. Sie nannte im Uebrigen keinen Namen. Sie sprach in abgemessenen Sätzen trotz der über ihrem Haupte schwebenden Gefahr, sie hätte sich zu der Reise nach Paris schnell entschlossen, weil nach ihrer Ueberzeugung keine Zeit mehr zu verlieren wäre. Morgen wäre es vielleicht schon zu spät gewesen, sie bäte ihn deshalb um schleunige Hilfe und Unterstützung. Alles das brachte sie mit einer so großen Fülle von logischen Facten und guten Gründen vor, daß man ihr in der That keine andre Absicht bei ihrem Besuch zu unterschieben vermochte.
    Herr Camy-Lamotte sondirte sie bis in die kleinsten unmerklichen Regungen ihrer Mundwinkel. Er war es, der dann den ersten Hieb führte.
    »Aber warum will die Gesellschaft Ihren Mann verabschieden? Ich denke, sie hat ihm nichts Bedenkliches vorzuwerfen?«
    Auch sie wandte kein Auge von ihm, sie spürte die feinsten Falten seines Gesichtes aus, um sich klar zu werden, ob er im Besitz ihres Briefes sei. Trotz des unschuldigen Aussehens seiner Frage war sie sofort überzeugt, daß er den Brief dort, in seinem Schreibtische verborgen halte; sie merkte die Falle, die man ihr stellte, daß er hören wollte, ob sie sich scheuen würde, von den wahren Gründen der Entlassung zu sprechen. Er hatte übrigens den Ton viel zu sehr zugespitzt, als daß man seine wahre Absicht nicht hätte merken können, undbis in das Innerste ihrer Seele spürte sie die ausgeblaßten Augen dieses arbeitsmüden Mannes dringen. Aber sie marschirte tapfer in die Gefahr hinein.
    »Mein Gott, verehrter Herr, es ist geradezu ungeheuerlich! Man hat uns im Verdacht, dieses unglückseligen Testamentes wegen unsern Wohlthäter getödtet zu haben! Wir haben unsere Unschuld ohne große Mühe nachgewiesen, aber etwas bleibt von solchen abscheulichen Verleumdungen stets zurück und die Gesellschaft fürchtet wahrscheinlich einen Scandal.«
    Er war abermals überrascht und betroffen von diesem Freimuth, namentlich von der Aufrichtigkeit des Accents. Im Uebrigen hatte sein prüfendes Auge gleich bei ihrem Eintritt genau gesehen, er fand ihre Gestalt von Mittelgröße, die gefällige Unterwürfigkeit in dem Blick ihrer blauen Augen unter dem Willenskraft bezeugenden schwarzen Haare äußerst verführerisch. Er dachte an seinen Freund Grandmorin mit eifersüchtiger Bewunderung: wie hatte es dieser verteufelte Mensch, der doch zehn

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