Die Bestie im Menschen
Sie der Meinung, daß wir das Legat nicht antreten sollen?«
»Das Gesetz schützt Sie,« sagte er klug ausweichend. »Das ist eine Sache des eigenen Ermessens und der Umstände.«
Schon auf der Schwelle stehend, machte sie noch einen letzten Versuch.
»Ich flehe Sie an, lassen Sie mich nicht so abreisen, sagen Sie mir, ob ich hoffen darf?«
Sie hatte im Gefühl grenzenloser Verlassenheit seine Hand ergriffen. Er entzog sie ihr. Aber sie blickte ihn mit ihren schönen, so glühend bittenden Augen an, daß sein Herz schmolz.
»Gut, kommen Sie um fünf Uhr wieder, vielleicht kann ich Ihnen dann etwas sagen.«
Sie ging und verließ das Hotel noch mehr geängstigt, als zuvor. Die Situation hatte sich zugespitzt, ihr Schicksal blieb in der Schwebe, vielleicht drohte ihr eine sofortige Verhaftung. Wie das Leben ertragen bis fünf Uhr? Der Gedanke an Jacques, den sie ganz vergessen, drängte sich mit einem Male ihr wieder auf: das war auchEiner der sie verderben konnte, wenn man sie verhaftete. Obwohl es erst ein Viertel nach zwei war, beeilte sie sich doch, die Rue du Rocher hinauf nach der Rue Cardinet zu kommen.
Herr Camy-Lamotte war sinnend an seinem Schreibtische stehen geblieben. Als Vertrauter der Tuilerien, wohin er in seiner Stellung als Generalsecretär des Justizministeriums fast täglich entboten wurde, ebenso mächtig als der Minister selbst und zu den intimsten Geschäften herangezogen, wußte er, wie sehr die Sache Grandmorin an hoher Stelle irritirte und beunruhigte. Die Organe der Opposition führten die lärmende Campagne weiter, die einen warfen der Polizei vor, von der politischen Abtheilung so in Anspruch genommen zu sein, daß sie keine Zeit übrig hätte zu der Verfolgung von Mördern, die anderen durchwühlten das Privatleben des Präsidenten und gaben zu verstehen, daß er auch zum Hofe gehörte, an dem die Gemeinheit zu Hause wäre. Dieser Feldzug wurde um so verderbenbringender, je näher die Wahlen heranrückten. Man hatte deshalb dem Generalsecretär den Wunsch nahegelegt, daß man mit der Sache, gleichviel wie, zu Rande kommen möge. Der Minister hatte sich die bedenkliche Angelegenheit vom Halse gewälzt, Herr Camy-Lamotte war also der unumschränkte und einzig verantwortliche Herr über die Entscheidung: er mußte genau prüfen, denn er war sich klar, daß er für alle Anderen mit zu büßen haben würde, falls er sich ungeschickt zeigen sollte.
Noch nachdenklich öffnete Herr Camy-Lamotte die Thür zum nächsten Zimmer, in welchem Herr Denizet wartete. Dieser hatte natürlich gehorcht.
»Ich sagte es Ihnen gleich,« sagte er schon beim Hereintreten, »man verdächtigt diese Leute mit Unrecht … Die Frau denkt ersichtlich nur daran, ihren Mann vor der möglichen Entlassung zu bewahren. Sie hat kein einziges verdächtiges Wort gesprochen.«
Der Generalsecretär antwortete nicht sofort. In Gedanken verloren ließ er seine Blicke auf dem Richter ruhen, dessen grobe Züge und seine Lippen ihn fesselten. Er dachte gerade an diese Kategorie von niederen Beamten, deren Wohl in seiner Hand, als der ihres geheimen Chefs lag, und er war betroffen, daß sie noch trotz ihrer Armseligkeit so ehrlich, sointelligent trotz ihrer maschinellen Thätigkeit war. Doch dieser mit seinen von dicken Lidern beschatteten Augen war wirklich der feine Kopf, der zu sein er sich einbildete. Mit zäher Leidenschaftlichkeit hielt er an seiner Wahrheit fest.
»Sie bleiben also dabei,« fragte Herr Camy-Lamotte, »in diesem Cabuche den Thäter zu sehen?«
»Aber gewiß,« antwortete Herr Denizet sehr erstaunt. »Nichts könnte ihn entlasten. Ich habe Ihnen die Indizien aufgezählt, die, ich wage es zu sagen, geradezu klassische sind, kaum daß eines fehlt … Ich habe genau untersucht, ob er nicht doch einen Mitschuldigen, eine Frau vielleicht, in dem Koupee gehabt hat, wie Sie mir zu verstehen gaben. Das schien auch mit der Angabe eines Maschinenführers zu stimmen, der die Scene des Todtschlages gesehen haben will: aber geschickt von mir ausgefragt konnte der Mann nicht bei seiner ersten Aussage bleiben, er hat selbst zugegeben, daß die schwarze Masse, von der er gesprochen, eine Reisedecke gewesen sein muß … Ja, Cabuche ist zweifellos der Thäter, wenn wir ihn nicht hätten, hätten wir überhaupt keinen.«
Bisher hatte der Generalsecretär von dem in seinem Besitz befindlichen schriftlichen Beweisstück nichts erwähnt, jetzt, da seine eigene Ueberzeugung feststand, beeilte er sich umsoweniger, dem
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