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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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sehr belastet wäre. Das Schlimme war, daß Herr Dabadie, als man ihn hierüber befragte, die Wahrheit dieses Gerüchtes nicht direct in Abrede gestellt hatte, was viel zu denken gab. Es war also höchste Zeit, nach Paris zu reisen, um persönlich für ihre Sache zu plaidiren und vor allen Dingen die Protection der mächtigen Persönlichkeit nachzusuchen, welche an Stelle des Präsidenten getreten war. Aber mit diesem Wunsch, der allenfalls den Besuch erklärlich machte, ging ein weit zwingenderer Beweggrund Hand in Hand, das nicht zu sättigende und nicht zu befriedigende Bedürfniß, alles wissen zu wollen, dasselbe, welches den Verbrecher antreibt, sich lieber auszuliefern, als im Zweifel zu bleiben. Die Ungewißheit tödtete sie; seit dem Augenblick, in welchem Jacques von der Verdächtigung eines zweiten Mörders gesprochen hatte, fühlten sie sich entdeckt. Sie marterten sich mit Conjuncturen, mit der Auffindung des Briefes, mit der Wiederaufnahme des Verfahrens. Sie warteten von Stunde zu Stunde auf eine Haussuchung oderVerhaftung. Ihre Marter stieg auf den Gipfel, als die einfachsten Thatsachen um sie herum ein so besorgnißerregendes Aussehen anzunehmen schienen. Aus diesem Grunde zogen sie die eventuelle Katastrophe diesem ewigen Alarmiren vor. Sie wollten Gewißheit und keine weiteren Leiden.
    Séverine verzehrte ihre Cotelette so in Gedanken, daß sie sich ermunternd zuerst garnicht wußte, wie sie in dieses Restaurant gekommen war. Sie spürte einen bittern Geschmack im Munde, die Bissen rutschten nicht herunter und sie brachte es nicht einmal über das Herz, sich Kaffee geben zu lassen. Trotzdem sie langsam gespeist hatte, war es doch erst knapp ein Viertel nach zwölf Uhr, als sie das Restaurant verließ. Noch volle dreiviertel Stunden waren todtzuschlagen! Sie, die Paris so schwärmerisch liebte, die, so oft sie es konnte, mit erneutem Entzücken über das Pariser Pflaster lief, sie kam sich heute wie verloren, geängstigt vor. Sie konnte das Ende des Besuches nicht erwarten, am liebsten hätte sie sich irgendwo versteckt. Die Bürgersteige trockneten bereits ab, ein warmer Wind trieb die Wolken auseinander. Sie ging die Rue Tronchet hinab und stand plötzlich auf dem Blumenmarkt der Madeleine, einem jener Märzmärkte zu Ende des Winters, auf dem ein Blüthenmeer von Azaleen und Primeln wogt. Eine halbe Stunde lang wanderte sie in diesem vorzeitigen Frühling umher, unstäte Träume peinigten sie, sie schilderten ihr Jacques als einen Feind, den sie wehrlos zu machen haben würde. Ihr schien es, als hätte sie den Besuch in der Rue du Rocher hinter sich, als wäre nach dieser Richtung alles gut abgelaufen, als hätte sie nur noch das Schweigen dieses jungen Menschen zu erkaufen. Das war aber ein verwickeltes Unterfangen, für seine Lösung arbeitete ihr Köpfchen allerlei romantische Pläne aus. Dieses Träumen däuchte ihr ein angenehmes, nicht ermüdendes, keine Schrecken zeitigendes Wiegen der Gedanken. Plötzlich fuhr sie zusammen, ihr Blick suchte die Uhr in dem Kiosk: ein Uhr zehn Minuten. Der Besuch war noch nicht gemacht, die Angst vor der Wirklichkeit packte sie von Neuem, sie eilte nach der Rue du Rocher.
    Das Hotel des Herrn Camy-Lamotte bildete gerade die Ecke dieser Straße und der Rue de Naples. Séverine mußte an dem stumm und öde, mit geschlossenen Fensterlädendastehenden Hotel Grandmorin vorüber. Sie erhob die Augen und beschleunigte ihre Schritte. Sie gedachte ihres letzten Besuches in diesem Hause und sah es groß und drohend vor sich stehen. Als sie einige Schritte weiter war, sah sie sich instinctiv um, wie Jemand, der eine laute Stimme aus der ihn verfolgenden Menge vernimmt und bemerkte auf dem gegenüber gelegenen Bürgersteig Herrn Denizet, den Untersuchungsrichter aus Rouen, der dieselbe Richtung wie sie verfolgte. Sie blieb betroffen zurück. Hatte er sie bemerkt, als er zum Hause des Präsidenten hinüberblickte? Er ging aber gelassen weiter, sie lieh ihn voraus schreiten und folgte ihm höchst beklommen. Und wie ein Stich ging es ihr durch das Herz, als sie ihn an der Ecke der Rue de Naples die Glocke am Hause des Herrn Camy-Lamotte ziehen sah.
    Der Schreck übermannte sie. Jetzt einzutreten hätte sie nie gewagt. Sie machte Kehrt und wanderte beschleunigten Schrittes durch die Rue d’Edinbourg bis zum Pont de l’Europe. Dort erst fühlte sie sich geborgen. Sie wußte nicht mehr, wohin gehen, was thun. Starr und unbeweglich lehnte sie gegen die Balustrade und sah

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