Die Bestie im Menschen
hernieder auf das metallene Gerippe des mächtigen Bahnhofsfeldes, über das unaufhörlich die Züge rollten. Sie folgte ihnen mit ihren verschleierten Blicken, aber ihre Gedanken weilten im Hause des Herrn Camy-Lamotte. Sie fühlte, daß der Richter in ihrer Sache bei ihm war, daß die beiden Männer von ihr sprachen und sich in diesem Augenblick vielleicht ihr Schicksal entschied. In ihrer verzweiflungsvollen Stimmung kam ihr der Gedanke, sich lieber vor die Maschine eines Zuges zu werfen, als nach der Rue du Rocher zurückzukehren. Gerade verließ einer die Halle für den Fernverkehr. Sie sah ihn kommen und zu ihren Füßen verschwinden, während ein Wirbel lauen, weißen Dampfes ihr Gesicht anhauchte. Der Gedanke, daß sie die Reise umsonst gemacht haben, an die furchtbare Angst, die sie heimbringen würde, falls sie nicht mehr die Kraft hätte, sich Gewißheit zu verschaffen, stellte sich so lebhaft ihrem Geiste vor, daß sie sich selbst noch weitere fünf Minuten bestimmte, um ihren Muth wiederzufinden. Lokomotiven pfiffen, besonders eine kleine, welche das Ausrangiren eines Ringbahnzuges besorgte. Ihr Blick hatte sich nach links gewandtund erkannte hoch oben über dem Gepäckexpeditionshof das Haus in der Sackgasse der Rue d’Amsterdam, und in diesem Hause das Fenster des Zimmers der Mutter Victoire, dieses Fenster, an welchem sie sich noch hinter ihrem Manne stehen sah vor jenem abscheulichen Auftritte, mit dem ihr Unglück begonnen hatte. Diese Erinnerung rief das Gefährliche ihrer Lage durch ein so spitziges Gefühl des Leidens wieder in ihr wach, daß sie sich entschlossen fühlte, Allem in’s Auge zu sehen, blos um damit zu Ende zu kommen. Das Getute der Signalhörner, das ununterbrochene Rasseln betäubten sie. Dichte Rauchwolken versperrten den Horizont und bedeckten den großen klaren Himmel über Paris. Sie trat von Neuem den Weg nach der Rue du Rocher an, mit dem Gefühl, als wollte sie einen Selbstmord begehen; sie beschleunigte ihre Schritte in der jähen Furcht, vielleicht dort Niemand mehr anzutreffen.
Als Séverine die Hausglocke zog, überlief es sie abermals eisig. Doch schon bat ein Diener sie in das Vorzimmer und fragte, wen er melden dürfte. Beim geräuschlosen Oeffnen der Thürflügel hörte sie die lebhafte Unterhaltung zweier Stimmen. Dann herrschte wieder tiefes, durch nichts gestörtes Schweigen um sie her. Sie unterschied nur das dumpfe Pochen ihrer Schläfen, sie redete sich ein, daß der Richter noch konferirte und man sie wahrscheinlich schon längst erwartet hatte. Dieses Warten schien ihr unerträglich. Plötzlich hörte sie den Diener ihren Namen nennen. Er geleitete sie in das Kabinet. Jedenfalls war der Richter noch da, sie vermuthete ihn hinter einer Thür verborgen.
Dunkle Möbel, ein dicker Teppich, schwere, so dicht geschlossene Vorhänge, daß von draußen kein Ton hereindringen konnte, schmückten das ernst aussehende große Arbeitszimmer. Trotzdem sah man in einem Broncegefäß herrliche Rosen blühen, ein Zeugniß dafür, daß sich hinter dieser würdigen Strenge eine Anmuth und Freude an der Heiterkeit des Lebens verbarg. Der Herr des Hauses stand aufrecht hinter seinem Schreibtische. In seinem correct zugeknöpften Gehrocke und mit seinem feinen Gesicht, das seine schon ergrauenden Haare größer erscheinen ließen, als es war, sah er zwar streng, aber auch vornehm elegant und behäbig aus, wie einer jener alten Beaus von Distinction, unter deren offizieller Haltung manstets ein gutmüthiges Lächeln spürt. In dem im Gemache herrschenden Halbdunkel sah er sehr erhaben aus.
Séverine fühlte beim Eintritt, wie die laue dumpfe Luft dieses Zimmers sich schwer auf ihre Brust legte. Sie erblickte nur Herrn Camy-Lamotte, der ihrer Annäherung gespannt entgegensah. Er machte keine zum Sitzen einladende Bewegung, keine Anstalt zuerst zu reden; er wartete, bis sie von der Ursache ihres Besuches sprechen würde. Dadurch entstand ein längeres Schweigen. Séverine verspürte aber plötzlich die Wirkung einer sich in ihrem Innern vollziehenden heftigen Reaction und wieder Herrin ihrer selbst sprach sie ruhig, sehr vorsichtig und sehr klug.
»Sie entschuldigen, mein Herr, daß ich es wage, mich in Ihr Gedächtniß zurückzurufen. Sie kennen den unersetzlichen Verlust, den ich erlitten habe und in meiner Verlassenheit habe ich mich erkühnt, mich an Sie mit der Bitte zu wenden, unser Vertheidiger zu sein und unser Beschützer an Stelle Ihres von mir so bedauerten
Weitere Kostenlose Bücher