Die Bestie im Menschen
erdröhnten die Drehscheiben und der Zug rollte mit einem kurzen Pfiff, sich stoßend, rauchend, triefend und durchnäßt von dem seit Rouen unablässig strömenden Regen in den Bahnhof.
Die Beamten hatten noch nicht einmal Zeit gefunden, die Koupeethüren zu öffnen, als eine derselben bereits von innen aufgestoßen wurde und Séverine auf den Perron sprang, noch ehe der Zug zum Halten gebracht war. Ihr Waggon war der letzte im Zuge, sie mußte sich daher beeilen und drang mit dem sich plötzlich aus den Koupeethüren ergießenden Strom der mit Sack und Pack angekommenen Reisenden zur Lokomotive vor. Jacques stand dort auf der Plattform und wartete auf die Rückfahrt in das Depot, während Pecqueux die Messingtheile mit einem leinenen Tuche abrieb.
»Also abgemacht,« sagte sie und stellte sich dabei auf die Fußspitzen. »Ich werde um drei Uhr in der Rue Cardinet sein. Sie werden die Güte haben, mich Ihrem Chef vorzustellen, damit ich mich bei ihm bedanken kann.«
Dieser Dank für irgend eine unbedeutende Gefälligkeit an den Chef des Depots von Les Batignolles war ein von Roubaud erdachter Vorwand. Auf diese Weise mußte sie die Freundschaft des Maschinenführers in Anspruch nehmen und konnte so am besten dessen Person fester an sie selbst knüpfen.Jacques, bis auf die Haut durchnäßt vom Kampfe gegen Wetter und Wind und von der Kohle geschwärzt, sah sie stumm mit seinen harten Augen an. Er hatte ihrem Gatten in Havre den Gefallen nicht abschlagen können, aber der Gedanke, allein mit ihr zu sein, verdrehte ihm den Kopf, er fühlte sehr wohl, daß sie ihm begehrenswerth erschien.
»Nicht wahr, ich darf auf Sie rechnen?« wiederholte sie mit einem schmeichlerischen Blick ihrer Augen. Innerlich war sie nicht wenig überrascht und empört von einer so wenig entgegenkommenden, steifen Haltung.
Sie hatte sich höher gereckt und ihre behandschuhte Hand unwillkürlich auf eine Feuerzange gelegt.
»Vorsicht,« mahnte Pecqueux galant, »Sie werden sich beschmutzen.«
Jacques mußte nun etwas sagen. Er that es in sehr schroffem Tone.
»Ja, Rue Cardinet … Vorausgesetzt, daß mich dieser verwünschte Regen nicht ganz fortschwemmt. Ein Hundewetter!«
Sie rührte sein erbärmlicher Zustand. Als hätte er nur für sie so gelitten, schmeichelte sie:
»Wie sehen Sie aus und ich war inzwischen so gut aufgehoben! … Ich habe an Sie gedacht und fand dieses Unwetter empörend … Der Gedanke, daß gerade Sie mich heute früh hierher gebracht haben und mich heute Abend mit dem Schnellzuge wieder zurückführen werden, macht mich sehr glücklich.«
Aber diese liebenswürdige, fast zärtliche Vertraulichkeit schien ihm noch mehr den Kopf zu verdrehen. Er sah sehr geängstigt aus. Da erlöste ihn der plötzliche Ruf: »Rückwärts!« Sofort zog er am Ventil der Dampfpfeife, während der Heizer die junge Frau mit der Hand zur Vorsicht mahnte.
»Um drei Uhr also!«
»Ja, um drei Uhr!«
Während sich die Lokomotive in Bewegung setzte, verließ Séverine als letzte den Bahnsteig. Als sie draußen in der Rue d’Amsterdam den Schirm öffnen wollte, bemerkte sie zu ihrer Zufriedenheit, daß der Regen aufgehört habe. Sie ging bis zur Place du Havre, überlegte dort einenAugenblick und entschloß sich, zunächst einen kleinen Imbiß zu nehmen. Es fehlten gerade fünf Minuten an halb zwölf, als sie ein kleines Restaurant an der Ecke der Rue Saint-Lazare betrat. Sie bestellte sich Spiegeleier und eine Cotelette. Sie speiste sehr langsam und versank dann in dasselbe Nachdenken, das sie schon seit Wochen quälte. Sie sah jetzt immer sehr bleich und abgespannt aus, ihr verführerisches, gern gezeigtes Lächeln war dahin.
Roubaud hatte es für sehr gefährlich gehalten, noch länger zu warten und so hatte er zwei Tage nach dem letzten Verhör in Rouen beschlossen, daß sie Herrn Camy-Lamotte einen Besuch abstatten sollte, und zwar nicht im Ministerium, sondern in der Rue du Rocher, wo dessen eigenes Haus in der Nachbarschaft des Hotels Grandmorin zu finden war. Sie wußte, daß sie ihn um ein Uhr dort antreffen würde, deshalb beeilte sie sich nicht. Sie überlegte, was sie sagen wollte und was er wohl antworten würde, damit sie sich keine Blöße gab. Ein neuer Grund zur Unruhe hatte ihre Reise nach Paris übrigens beschleunigt: sie hatte durch das Geschwätz der Bahnhofsleute erfahren, daß Frau Lebleu und Philomène überall aussprengten, Roubaud würde von der Gesellschaft entlassen werden, weil er durch die Untersuchung
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