Die Bestie im Menschen
den guten Bürger und den ehrenhaften Mann. Niemand denkt daran, Ihrer Unabhängigkeit zu nahe zu treten. Deshalb wiederhole ich, Sie sind der absolute Herr in dieser Sache, wie es das Gesetz auch gewollt hat.«
Stolz auf diese unumschränkte Vollmacht, um so mehr, als er davon einen schlechten Gebrauch zu machen im Begriff stand, nahm der Richter jede dieser Phrasen mit einem Kopfnicken der Befriedigung entgegen.
»Uebrigens,« fuhr der Andere mit verdoppelter Huld fort, deren Übertreibung fast zur Satire wurde, »wissen wir, an wen wir uns wenden. Wir haben Ihre Thätigkeit schon seit langer Zeit beobachtet. Ich freue mich deshalb. Ihnen mittheilen zu können, daß Sie für die zunächst in Paris frei werdende Stelle in Aussicht genommen sind.«
Herr Denizet konnte eine Bewegung der Enttäuschung nicht unterdrücken. Wie? Man wollte den von ihm verlangten Dienst erst später durch die Erfüllung seines ehrgeizigenTraumes, nach Paris versetzt zu werden, vergelten? Herr Camy-Lamotte hatte begriffen und beeilte sich fortzufahren:
»Ihre Stellung hier ist vorgesehen, es ist nur noch eine Frage der Zeit. Da ich nun schon einmal indiscret geworden bin, so schätze ich mich glücklich. Ihnen mittheilen zu können, daß Sie für das Kreuz zum 15. August notirt sind.«
Eine Sekunde überlegte der Richter. Er hatte das Avancement vorgezogen, denn er rechnete aus, daß sein monatliches Einkommen dann um ungefähr hundertundsiebzig Franken stieg, das war gleichbedeutend mit einem Wohlleben seiner jetzigen, dezenten Armuth gegenüber. Er konnte seine Garderobe in einen besseren Zustand versetzen und seine dürre Melanie besser ausfüttern. Aber auch das Kreuz war so unübel nicht; im Uebrigen hatte er ja das Versprechen in der Hand. Und er, der sich nicht verkauft haben würde, der vollgesogen war mit den Anschauungen des ehrbaren mittleren Beamtenstandes, er gab auf die bloße Hoffnung und das Versprechen hin, von oben herab begünstigt zu meiden, sofort klein bei. Das Geschäft des Richters war eben ein Metier wie jedes andere auch. Auch er schleppte als ausgehungerter Sachwalter die Sträflingskugel am Bein herum und war jederzeit bereit, seinen Rücken vor den Befehlen der Obrigkeit zu beugen.
»Ich bin sehr gerührt,« murmelte er, »ich bitte Sie, dem Herrn Minister meinen Dank auszusprechen.«
Er hatte sich erhoben, er fühlte, daß alles, was sie sich noch zu sagen hatten, jeden von ihnen geniren würde.
»Ich werde also,« so schloß er mit stumpfsinnig blickenden Augen und theilnahmslosem Gesicht, »meine Untersuchung zu Ende führen und Ihre Bedenken berücksichtigen. Da wir absolute Beweise gegen Cabuche noch nicht besitzen, so wird es wohl das Beste sein, nicht den unnützigen Skandal eines Prozesses zu riskiren. Ich werde ihn laufen und weiter überwachen lassen.«
Der Generalsecretär war auch auf der Schwelle des Zimmers noch der liebenswürdigste Mann von der Welt.
»Wir verlassen uns vollständig auf Ihr großes Tactgefühl und Ihre große Ehrenhaftigkeit, Herr Denizet.«
Als sich Herr Camy-Lamotte allein befand, verglich er aus reiner Neugier das Geschreibsel von Séverine mit dem ununterschriebenen Billet, das er unter den Papieren desPräsidenten Grandmorin gefunden hatte. Die Aehnlichkeit sprang sofort in die Augen. Er faltete das Papier und verschloß es sorgfältig. Er hatte dem Untersuchungsrichter kein Wort davon gesagt, eine solche Waffe mußte gut gehütet werden. Und als das Profil dieser kleinen, in ihrer nervösen Abwehr so behenden und so tapferen jungen Frau vor seiner Erinnerung stand, zuckte er nachsichtig und spöttisch mit den Achseln. Ach, wenn diese lieben Geschöpfe nur wollen!
Séverine war um drei Uhr weniger zwanzig Minuten die erste beim Rendez-vous mit Jacques in der Rue Cardinet. Er wohnte hier hoch oben in einem Hause in einem schmalen Kämmerchen, das er höchstens des Abends zum Schlafen aufsuchte. Zwei Nächte in der Woche schlief er überhaupt nicht zu Hause, sondern in Havre in der Zeit zwischen dem Eilzug des Abends und dem des Morgens. Aber an diesem Tage hatte er doch, bis auf die Knochen durchnäßt und vor Müdigkeit wie gebrochen sein Zimmer aufgesucht und sich auf das Bett geworfen. Séverine würde deshalb wahrscheinlich vergeblich auf ihn gewartet haben, hätte ihn nicht der Zank eines benachbarten Ehepaares, das Heulen einer von ihrem Manne geprügelten Frau geweckt. Er rasirte sich. Als er aus dem Fenster seiner Mansardenstube blickte, erkannte er sie
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