Die Bestie im Menschen
antreten wollte, war er nicht wenig überrascht, auf Pecqueux zu stoßen, der wild fluchend seine Kleidungsstücke zusammenraffte.
»Was denn nun, Alter?«
»Reden Sie garnicht davon! Diese Tölpel haben Sauvagnat aufgeweckt. Er hat mich bei seiner Schwester gehört, ist im Hemde heruntergekommen, so daß ich, so schnell ich konnte, durch das Fenster fliehen mußte … Hören Sie nur!«
Man vernahm das Gekreisch und das Schluchzen eines gemaßregelten Weibes, während eine tiefe Männerstimme Verwünschungen ausstieß.
»Das ist er, er macht ihr den Rücken etwas lose. Sie ist schon zweiunddreißig Jahre alt und bekommt immer noch die Knute, wie ein kleines Mädchen, wenn er sie abfaßt … Sehr schlimm, ich mische mich aber nicht hinein, er ist ja ihr Bruder!«
»Ich glaubte, er duldete Euch,« fragte Jacques, »und ärgerte sich nur, wenn er sie mit einem Anderen abfaßte?«
»Man weiß nie, woran man mit ihm ist. Sehr oft scheint er mich nicht zu bemerken, ebenso oft aber prügelt er sie auch, wie Sie jetzt eben hören. Trotzdem liebt er seine Schwester, er würde lieber alles aufgeben, ehe er sich von ihr trennte; nur will er, daß sie sich gut führt … Alle Wetter, ich glaube, sie hat heute ihr Theil fort.«
Das Geschrei hörte auf und ging in heftiges Schluchzen über. Die beiden Männer entfernten sich. Zehn Minuten später schliefen sie fest, Seite an Seite, in dem kleinen Zimmer mit den gelb getünchten Wänden, dessen einfaches Mobiliar aus vier Betten, vier Stühlen und einem Tische bestand, auf dem eine einzige Waschschüssel aus Zink thronte.
Von nun an durchkosteten Jacques und Séverine bei jedem abermaligen Zusammentreffen alle Süßigkeiten. Nichtimmer schützte sie das Wetter so wie in jener ersten Nacht. Sternklarer Himmel und Mondschein war ihnen unbequem. Sie suchten dann den tiefsten Schatten, die dunkelsten Winkel auf, in denen sie sich so recht aneinanderpressen mußten. Viele Nächte im August und September waren noch von so herrlicher Milde, daß sie sich in ihrer sinnlichen Mattigkeit gewiß von der Sonne hätten überraschen lassen, wenn das Erwachen des Bahnhofes, das ferne Zischen der Lokomotiven sie nicht getrennt hätte. Selbst die erste Oktoberkühle mißfiel ihnen nicht. Sie erschien wärmer eingehüllt, mit einem großen Mantel angethan, in welchem sie halb verschwand. Dann verbarrikadirten sie sich in der Werkzeugremise; er hatte in Gestalt einer Eisenstange ein Mittel gefunden, sie von innen zu verriegeln. Auf diese Weise waren sie gut aufgehoben, die Novemberstürme mochten nun das Dach aus seinen Fugen reißen, ihnen selbst kühlte kein Lüftchen den Nacken. Er hatte indessen von der ersten Nacht an das Begehren gefühlt, sie bei sich zu Hause in dem engen Kämmerchen zu besitzen, wo sie ihm stets ganz anders, viel begehrenswerther mit ihrem milden Lächeln einer ehrbaren Bürgersfrau erschien. Sie hatte seine Bitte bisher nicht erfüllt, weniger aus Furcht vor den Spionen des Corridors als aus einem letzten Skrupel von Tugend, der das Ehebett rein wissen wollte. Aber als er eines Montags zum Frühstück bei ihr war und der Gatte unten vom Bahnhofsvorsteher noch aufgehalten wurde, schmeichelte er ihr erst und plötzlich trug er sie in einer tollkühnen Anwandlung, worüber Beide lachen mußten, auf das Bett. Sie vergaßen sich ganz. Von nun an widerstand sie nicht weiter. Alle Donnerstage und Sonnabend nach Mitternacht kam er zu ihr. Es war das schrecklich gefährlich: sie wagten aus Angst vor der Nachbarschaft nie zu athmen. Aus diesem Zusammensein aber erwuchsen ihnen neue Freuden, ein verdoppeltes Maß von Zärtlichkeit. Oft führte sie die Lust an dem nächtlichen Umherstreifen und das Bedürfniß, die Fesseln von sich zu werfen, wieder hinaus in die dunkle Einsamkeit der eisigen Nächte. Selbst im Dezember suchten sie trotz der furchtbaren Kälte noch ihre Remise auf.
Schon vier Monate liebten sich Jacques und Séverine so mit wachsender Leidenschaft. Sie waren Beide in der Kindheit ihrer Herzen, in dieser süßen Unschuld erster Liebe,welche von den geringsten Zärtlichkeiten entzückt ist, noch wahre Neulinge. Der Kampf der größeren Unterwürfigkeit eines unter das andere ergötzte sich nach wie vor. Er zweifelte nicht mehr daran, von dem schrecklichen Erbübel geheilt zu sein, denn seit er sie besaß, war ihm nie wieder der Gedanke an einen Todtschlag gekommen. War also mit dem physischen Besitz dieses Mordbedürfniß befriedigt? Besitz und Todtschlag
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