Die Bestie von Florenz
sein.
»Calamandrei ist ein alter Freund von mir«, sagte Mario. »Er hat mich damals meiner Frau vorgestellt! Das Ganze ist vollkommen absurd, einfach lachhaft. Der Mann könnte keiner Fliege etwas zuleide tun.«
Spezi erzählte mir von seinem Freund. Er hatte Calamandrei Mitte der sechziger Jahre kennengelernt, als sie beide noch studiert hatten, Spezi Jura und Calamandrei Pharmakologie und Architektur. Calamandrei war ein brillanter Student, der Sohn des einzigen Apothekers von San Casciano, was in Italien ein sehr gut bezahlter und hochangesehener Beruf ist. Das galt besonders für die Familie Calamandrei, weil San Casciano ein wohlhabender Ort mit nur einer einzigen Apotheke war. Calamandrei gab damals eine schneidige Figur ab; er flitzte in einem schicken Lancia Fulvia Coupé durch die Stadt, groß, elegant, gutaussehend und nach Florentiner Mode makellos gekleidet. Er hatte einen trockenen, scharfen Sinn für Humor, wie man ihn in der Toskana oft findet, und schien ständig eine neue Freundin zu haben, noch schöner als die letzte. Calamandrei stellte Mario in einem berühmten Restaurant seiner zukünftigen Frau Myriam vor (»Ich hab da eine hübsche kleine Belgierin für dich, Mario«); danach quetschten sie sich alle in Calamandreis Auto und machten eine verrückte Spritztour nach Venedig, um dort im Casino Bakkarat zu spielen. Calamandrei war die Verkörperung dieser kurzen Periode in der italienischen Geschichte, die als la dolce vita bekannt ist, von Fellini so unvergesslich auf Film festgehalten.
Ende der sechziger Jahre heiratete Calamandrei die Tochter eines wohlhabenden Industriellen. Sie war eine zierliche, nervöse Frau mit rotem Haar. Sie feierten eine prachtvolle Hochzeit in San Casciano, zu der auch Mario und Myriam eingeladen waren. Ein paar Tage später hatten die frisch Vermählten noch kurz bei Spezi Halt gemacht, schon auf dem Weg in die Flitterwochen. Calamandrei fuhr einen brandneuen, cremefarbenen Mercedes 300L Cabrio.
Spezi sah ihn danach jahrzehntelang nicht mehr.
Fünfundzwanzig Jahre später begegnete er ihm zufällig und war entsetzt darüber, wie sein Freund sich verändert hatte. Calamandrei war krankhaft fettleibig geworden und litt unter einer schweren Depression und zahlreichen gesundheitlichen Problemen. Er hatte die Apotheke verkauft und mit dem Malen begonnen – tragische, qualvolle Bilder, nicht mit Pinseln geschaffen, sondern mit Objekten wie Gummischläuchen, Metallblechen und Teer. Manchmal verarbeitete er echte Spritzen und Venenstauschläuche in seinen Bildern, die er oft mit seiner Sozialversicherungsnummer signierte, denn, so sagte er, mehr sei der Mensch im modernen Italien ohnehin nicht mehr. Sein Sohn war drogenabhängig und zum Dieb geworden, um seine Sucht zu finanzieren. Calamandrei hatte keinen anderen Ausweg gesehen und in seiner Verzweiflung den eigenen Sohn bei der Polizei angezeigt in der Hoffnung, ein Gefängnisaufenthalt könnte ihn aufrütteln und zur Besinnung bringen. Doch der Junge nahm nach seiner Entlassung weiterhin Drogen und verschwand irgendwann ganz.
Das Schicksal von Calamandreis Frau war ebenso tragisch. Sie war an Schizophrenie erkrankt. Einmal, bei einem Abendessen im Haus von Freunden, begann sie zu schreien, warf Dinge zu Boden, riss sich sämtliche Kleider vom Leib und rannte nackt auf die Straße hinaus. Danach wurde sie eingewiesen – der erste von vielen weiteren Klinikaufenthalten. Schließlich wurde sie für unzurechnungsfähig erklärt und in einem Sanatorium untergebracht, wo sie bis heute lebt.
1991 ließ Calamandrei sich von ihr scheiden. Daraufhin schrieb sie einen Brief an die Polizei, in dem sie ihren Mann bezichtigte, die Bestie von Florenz zu sein. Sie behauptete, sie hätte Stücke seiner Opfer im Kühlschrank gefunden. Ihr Brief – der vollkommen verrückt war – wurde damals pflichtschuldig von den Ermittlern überprüft und als absurd verworfen.
Hauptkommissar Giuttari jedoch stieß bei der Durchsicht alter Polizeiakten auf die Anschuldigung der Ehefrau, in einer seltsamen Handschrift verfasst, deren Zeilen sich stets nach oben krümmten. Giuttari fand, »Apotheker« käme »Arzt« nahe genug. Die Tatsache, dass Calamandrei einst ein wohlhabender, prominenter Einwohner von San Casciano gewesen war, dem vermeintlichen Zentrum des Satanskults, befeuerte Giuttaris Interesse. Der Hauptkommissar eröffnete offiziell Ermittlungen gegen ihn und mehrere weitere angesehene Bürger des Städtchens. Am 16. Januar 2004
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