Die Bestie von Florenz
vorkommen! Diese Bedeutung erstreckt sich vielleicht nur auf einen kleinen Kreis idiotischer Freunde, aber zumindest sind sie eingeweiht . Sie wissen Bescheid. Dass ich etwas weiß, das du nicht weißt, verleiht mir potere , Macht. Die dietrologia ist eng mit der italienischen Mentalität verknüpft, mit der Vorstellung von Macht. Man muss den Eindruck erwecken, über alles Bescheid zu wissen.«
»Inwiefern hat das etwas mit den Ermittlungen im Bestien-Fall zu tun?«
»Mein lieber Douglas, die dietrologia ist der eigentliche Kern der Sache! Um jeden Preis müssen sie etwas finden, das hinter der sichtbaren Wirklichkeit steckt. Da kann nicht nichts dahinter sein. Warum? Weil es undenkbar ist, dass das, was man sieht, die Wahrheit sein könnte. Nichts ist einfach, nichts ist so, wie es scheint. Sieht das aus wie ein Selbstmord? Ja? Tja, dann muss es Mord gewesen sein. Jemand ist Kaffee trinken gegangen? Aha! Er wollte Kaffee trinken gehen … Aber was hat er wirklich getrieben?« Er lachte. »In Italien«, fuhr er fort, »herrscht ein ständiges Klima der Hexenjagd. Verstehst du, Italiener sind von Grund auf neidisch. Wenn jemand gut verdient, muss irgendein Schwindel dabei sein. Natürlich steckt er mit irgendjemandem unter einer Decke. Materialismus ist hier ein Kult, und deshalb beneiden Italiener vor allem die Reichen und Mächtigen. Sie betrachten sie mit Argwohn, wollen aber gleichzeitig so sein wie sie. Das ist eine Hassliebe. Berlusconi ist ein klassisches Beispiel dafür.«
»Und deshalb suchen die Ermittler nach einer Teufelssekte der Reichen und Mächtigen?«
»Ganz genau. Und sie müssen um jeden Preis etwas finden. Wenn sie erst einmal damit angefangen haben, müssen sie weitermachen, wenn sie nicht das Gesicht verlieren wollen. Um dieser Idee willen sind sie zu allem bereit. Sie müssen daran festhalten. Ihr anglosassoni begreift nicht, was das mediterrane Konzept des Gesichts bedeutet. Ich bin bei historischen Nachforschungen in einem uralten Familienarchiv auf eine interessante Kleinigkeit gestoßen, die ein ferner Vorfahr jener Familie vor dreihundert Jahren begangen hatte. Nichts allzu Schlimmes, nur eine pikante Verfehlung, die bereits weitgehend bekannt war. Das Familienoberhaupt war entsetzt. Dieser Herr sagte: ›Das dürfen Sie nicht veröffentlichen! Che figura ci facciamo!‹ Wie stünden wir denn da?«
Wir waren fertig und standen auf, um an der Theke zu bezahlen. Wie üblich beharrte der Graf darauf, die Rechnung zu übernehmen. (»Sie kennen mich«, erklärte er, »und geben mir lo sconto , einen Nachlass.«)
Als wir auf der gepflasterten Straße vor dem Restaurant standen, sah Niccolò mich ernst an. »In Italien hasst man seinen Feind so sehr, dass man ihn aufbauen, ihn zum ultimativen Gegner machen muss, der für alles Übel verantwortlich ist. Die Ermittler wissen, dass sich hinter den simplen Tatsachen ein Satanskult verbirgt, dessen Tentakel bis in die höchsten Gesellschaftsschichten reichen. Das werden sie auch beweisen, ganz gleich, wie. Gott steh demjenigen bei« – er sah mich vielsagend an –, »der ihre Theorie anficht, denn das macht ihn zum Komplizen. Und je vehementer er leugnet, in die Sache verwickelt zu sein, desto stärker ist ihr Beweis.«
Er legte mir eine große Hand auf die Schulter. »Aber vielleicht ist an ihren Hypothesen ja doch etwas Wahres dran. Vielleicht gibt es diese Teufelssekte wirklich. Schließlich sind wir hier in Italien …«
Kapitel 41
Im Lauf des Jahres 2004, unserem letzten in Italien, nahmen die Bestien-Ermittlungen mächtig Fahrt auf. Ich hatte das Gefühl, dass fast jeden Monat irgendeine neue, absurd unwahrscheinliche Story Schlagzeilen machte. Mario und ich arbeiteten weiter an unserem Buch, gliederten und sammelten Material und stellten eine Akte mit den Zeitungsartikeln über die jüngsten Entwicklungen zusammen. Mario schrieb außerdem als freier Journalist weiter seine investigativen Beiträge, zapfte seinen Quellen bei den Carabinieri immer wieder frische Informationen ab und schnüffelte überall herum, stets auf der Suche nach einem neuen Knüller.
Eines Tages rief er mich an. »Doug, wir müssen uns in der Bar Ricchi treffen. Ich habe phantastische Neuigkeiten!«
Ich eilte zu unserem alten Treffpunkt. Meine Familie und ich lebten nun seit vier Jahren in Italien, und in der Bar Ricchi war ich so gut bekannt, dass ich den Wirt und seine Familie nicht nur namentlich begrüßte, sondern hin und wieder selbst lo sconto
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