Die Bestie von Florenz
befahl demnach die Morde, die von ihren Henkern, Pacciani und seinen Picknick-Freunden, ausgeführt wurden. Der Ermittlung auf den Spuren geheimer, abartiger und okkulter Gruppen, die grauenhafte »Opfergaben« darbringen, haben sich nun auch Strafverfolger aus Perugia angeschlossen.
Wieder einmal staunten Spezi und ich über das Buffet halbgarer und unausgereifter Spekulationen, das man der Presse in diesem Fall auftischte. Journalisten, die absolut keine Ahnung von der Geschichte der Bestie von Florenz hatten, die noch nie von der Sardinien-Spur gehört hatten, plapperten mit großen Augen alles nach, was die Ermittler oder die Staatsanwaltschaft bewusst durchsickern ließen. Kaum jemals wurden dabei der Konjunktiv gebraucht oder Modifikatoren wie »mutmaßlich« oder »zufolge«. Fragezeichen wurden nur um des sensationsheischenden Effekts willen gesetzt. Spezi stöhnte wieder einmal über den Niedergang des italienischen Journalismus.
»Warum«, fragte er, »sollten Narduccis Mörder sich einen so komplizierten Plan ausdenken? Kommen denn die Journalisten nicht darauf, sich diese einfache Frage zu stellen? Warum ihn nicht einfach ertränken und es wie einen Selbstmord aussehen lassen? Warum sollte man einmal die Leiche vertauschen und dann sogar noch ein zweites Mal? Woher um alles in der Welt hätte die zweite Leiche kommen sollen? Der Gerichtsmediziner, der Narduccis Leichnam damals untersucht hat, sowie sämtliche Angehörigen, Freunde und alle Leute auf diesem Foto, die seine Leiche ebenfalls gesehen haben, sind ganz sicher, dass es Narducci war. Sie beharren immer noch darauf, dass es Narducci war! Sollen denn alle diese Leute an der Verschwörung beteiligt sein?« Er schüttelte traurig den Kopf.
Ich las den Rest des Artikels in wachsendem Staunen. Der leichtgläubige Reporter der Nazione ging keiner einzigen der offensichtlichen Diskrepanzen in seiner Story nach. Schließlich schrieb er, dass »die Saponifikation der Leiche (innere Organe, Haut und Haar waren noch gut erhalten) nicht kompatibel zu der Tatsache [sei], dass die Leiche fünf Tage lang im Wasser gelegen hat«. Ein weiterer Punkt, der für die Austausch-These sprach.
»Was bedeutet eigentlich dieses ›nicht kompatibel‹?«, fragte ich Spezi und legte die Zeitung beiseite. Der Ausdruck war mir in den Unterlagen der Bestien-Ermittlungen immer wieder begegnet.
Spezi lachte. »Kompatibel, nicht kompatibel und inkompatibel sind die seltsamen Wortschöpfungen italienischer Experten, die sich nicht festlegen und damit Verantwortung übernehmen wollen. Wenn sie ›kompatibel‹ sagen, wollen sie nicht zugeben, dass sie keine Ahnung haben. Wurde die Patrone aus Paccianis Garten in die Waffe der Bestie geladen? ›Sie ist kompatibel.‹ Wurde Narducci dieser Bruch am Kehlkopf in der Absicht zugefügt, ihn zu töten? ›Er ist kompatibel.‹ Wurde dieses Bild von einem bestialischen Psychopathen gemalt? ›Es ist kompatibel.‹ Vielleicht ja, vielleicht auch nein – kurz, wir wissen es nicht! Wenn die Ermittler die Gutachter aussuchen, erklären die ihre Ergebnisse für ›kompatibel‹ mit den Theorien der Staatsanwaltschaft. Wenn die Verteidiger sie beauftragen, behaupten sie, ihre Feststellungen seien ›kompatibel‹ mit den Thesen der Verteidigung. Dieses Adjektiv sollte verboten werden!«
»Worauf läuft das alles hinaus?«, fragte ich. »Wo soll das enden?«
Mario schüttelte den Kopf. »Der bloße Gedanke daran macht mir Angst.«
Kapitel 39
Währenddessen eröffnete Giuttari in dem pittoresken Örtchen San Casciano eine neue Front gegen die Hintermänner der Bestien-Morde. San Casciano schien mitten im Herzen des Satanskults zu liegen; bis zur Villa Verde, der Villa des Grauens, waren es nur wenige Kilometer; hier hatten der unglückselige Postbote Vanni und der Dorfdepp Lotti gelebt, die als Komplizen Paccianis verurteilt worden waren.
Spezi rief mich wie so oft morgens an. »Hast du schon die Zeitung gelesen? Spar dir die Mühe, sie zu holen, ich komme rüber. Das wirst du nicht glauben.«
Er betrat das Haus, sichtlich aufgebracht, die Zeitung in der Hand, eine Gauloises zwischen den Lippen. »Das trifft mich persönlich.« Er klatschte die Zeitung auf den Tisch. »Lies das.«
Der Artikel berichtete von der neuesten Aktion der GIDES, einer Hausdurchsuchung bei einem Mann namens Francesco Calamandrei, dem ehemaligen Apotheker von San Casciano. Calamandrei stand unter Verdacht, einer der Hintermänner der Bestien-Morde zu
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