Die Bestie von Florenz
angefertigt von der berühmten Abteilung für Verhaltensforschung an der FBI-Akademie in Quantico. Doch niemand hatte dieses Dossier je gesehen – falls es denn überhaupt existierte.
Spezis Kontakt verschwand und kehrte eine halbe Stunde später mit einer dünnen Akte zurück. »Ich gebe Ihnen gar nichts«, sagte er und reichte sie Spezi. »Wir haben uns hier nicht gesehen.«
Spezi nahm die Unterlagen mit ins Café in der Loggia an der Piazza Cavour. Er bestellte sich ein Bier und begann zu lesen.
FBI Academy, Quantico, Virginia 22 135. Bitte um Unterstützung von Seiten der Polizia di Stato Italiana betreffs Ermittlung im Fall BESTIE VON FLORENZ, FPC-GCM FBIHQ. Die folgende kriminalpsychologische Analyse wurde erstellt von Special Agents John T. Dunn Jr., John Galindo, Mary Eileen O’Toole, Fernando M. Rivera, Richard Robley und Frans B. Wagner unter Leitung von Special Agent in Charge Ronald Walker und anderen Agenten des National Center for the Analysis of Violent Crime (NCAVC).
Das Dokument des »Nationalen Zentrums für die Analyse von Gewaltverbrechen« trug das Datum vom 2. August 1989 und die Bezeichnung: »BESTIE VON FLORENZ/Unser Aktenzeichen 163A-3915«.
»Bitte beachten Sie«, warnte das Vorwort der amerikanischen Experten, »dass die nachfolgende Analyse auf einer Untersuchung des Materials beruht, das uns von Ihrer Behörde zur Verfügung gestellt wurde. Sie kann weder als Ersatz für eine umfassende und systematische Ermittlung betrachtet werden noch als vollständig oder beweiskräftig.«
Das Dossier stellte fest, dass die Bestie von Florenz nicht einzigartig war. Der Täter war ein Serienmörder eines bestimmten Typs, der dem FBI bekannt war und über den es einen umfassenden Datenbestand gab: ein einsamer, impotenter Mann mit einem pathologischen Hass auf Frauen, der seine sexuellen Gelüste durch Mord befriedigte. In der trockenen Sprache, derer Gesetzeshüter sich so gern bedienen, stellte der FBI-Bericht einen Katalog an wahrscheinlichen Eigenschaften des Täters auf, erklärte sein mutmaßliches Motiv, spekulierte darüber, wie und warum er tötete, wie er seine Opfer aussuchte, was er mit den Leichenteilen tat, und schloss sogar Einzelheiten wie seinen Wohnort ein und ob er ein Auto besaß.
Spezi las mit wachsender Faszination. Bald wurde ihm klar, warum das Profil unter Verschluss gehalten wurde: Es zeichnete ein Porträt des Mörders, das völlig anders aussah als das von Pietro Pacciani.
Das Dossier hob hervor, dass die Bestie sich die Tatorte aussuchte, nicht die Opfer, und dass der Täter nur an Orten zuschlagen würde, die er gut kannte.
Der Täter beobachtete höchstwahrscheinlich seine Opfer so lange, bis diese mit sexuellen Handlungen begannen. Dann schlug der Angreifer zu, wobei er den Vorteil der Überraschung und Schnelligkeit ausnutzte und eine Waffe gebrauchte, die seine Opfer sofort kampfunfähig machte. Diese Vorgehensweise ist im Allgemeinen typisch für einen Angreifer, der an seiner Fähigkeit zweifelt, seine Opfer zu kontrollieren, der sich der Interaktion mit »lebenden« Opfern nicht gewachsen fühlt oder sich außerstande sieht, ihnen direkt gegenüberzutreten.
Der Täter griff plötzlich an, gab Schüsse aus nächster Nähe ab und richtete das Feuer dabei zuerst auf das männliche Opfer, um so die größere Gefahr für sich selbst auszuschalten. Erst dann fühlte er sich sicher genug, um seinen Angriff bei dem weiblichen Opfer fortzusetzen. Die hohe Anzahl der abgefeuerten Geschosse weist darauf hin, dass der Täter sich des Todes beider Opfer versichern wollte, ehe er mit der Verstümmelung post mortem bei dem weiblichen Opfer begann. Dies ist das eigentliche Ziel des Angreifers; der Mann stellt lediglich ein Hindernis dar, das beseitigt werden muss.
Dem FBI-Dossier zufolge handelte die Bestie allein. Möglicherweise war der Täter bereits polizeibekannt, aber eher für Delikte wie Brandstiftung oder Diebstahl. Er war keine grundsätzlich gewalttätige Person, die bereits andere Gewaltverbrechen begangen haben könnte. Er war auch kein Vergewaltiger. »Die Sexualität des Angreifers ist gehemmt und unreif, die Person hatte kaum sexuellen Kontakt mit Frauen der eigenen Altersgruppe.« Den Grund für die mysteriöse Lücke zwischen den Morden von 1974 und 1981 erklärte sich vermutlich damit, dass der Mörder während dieser Zeit nicht in Florenz gewesen war. »Den Täter muss man als durchschnittlich intelligente Person bezeichnen. Er hat wahrscheinlich die
Weitere Kostenlose Bücher