Die Bestie von Florenz
Orden »Golden Dawn« in Zusammenhang stand und damit mit Aleister Crowley, dem berühmtesten Satanisten des vergangenen Jahrhunderts. Er nannte sich »das Große Tier 666« und gründete in den 1920er Jahren in Cefalù auf Sizilien eine eigene Kirche, die Abtei von Thelema. In dieser magischen Kommune, so hieß es, praktizierte Crowley perverse magische und sexuelle Rituale mit Männern und Frauen.
Es gab weitere Elemente, die Giuttari zur Herausbildung seiner Theorie heranzog. Das wichtigste war Gabriella Carlizzi, eine umtriebige kleine Dame aus Rom mit einem breiten Lächeln, die auf ihrer Website und in selbst publizierten Büchern Verschwörungstheorien verbreitete. Carlizzi behauptete, eine Menge geheimer Informationen über Verbrechen in ganz Europa zu besitzen, die in den vergangenen Jahrzehnten Schlagzeilen gemacht hatten – darunter auch die Entführung und Ermordung des früheren italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro und der belgische Pädophilen-Ring. Hinter alledem, so behauptete sie, steckte die Schule der Roten Rose. Am 11. September 2001, dem Tag der Terroranschläge in den USA, verschickte Carlizzi ein Fax an die italienischen Zeitungen: »Sie waren das, die Mitglieder der Roten Rose. Jetzt nehmen sie Bush ins Visier!« Die Rote Rose steckte auch hinter den Bestien-Morden. Carlizzi war bereits wegen übler Nachrede verurteilt worden, weil sie behauptet hatte, der bekannte italienische Schriftsteller Alberto Bevilacqua sei die Bestie von Florenz, doch seit damals hatten sich ihre Theorien über die Bestie offenbar weiterentwickelt. Auf ihrer Website veröffentlichte sie außerdem erbauliche religiöse Geschichten und schilderte detailliert ihre Gespräche mit der Madonna von Fátima.
Carlizzi wurde von der Staatsanwaltschaft als Gutachterin hinzugezogen. Giuttari und seine Kripo-Beamten von der GIDES bestellten sie ein und hörten ihr stundenlang zu – vielleicht sogar tagelang –, während sie ihr Wissen über die Aktivitäten der satanischen Sekte zum Besten gab, die sich in den grünen Hügeln der Toskana verbarg. Die Polizei musste ihr Begleitschutz gewähren, würde sie später behaupten, so gefährdet sei sie gewesen, weil Mitglieder der Sekte sie zum Schweigen bringen wollten.
Giuttari kramte in alten Indizienschränken herum und fand tatsächlich Gegenstände, die seine Theorie stützten, ein Satanskult stecke hinter den Morden. Das erste Beweisstück war der Türstopper, der ein paar Dutzend Meter vom Tatort des Bartoline-Mordes im Oktober 1981 gefunden worden war. Für den Hauptkommissar handelte es sich bei diesem Stein um etwas weitaus Schrecklicheres als einen Türstopper. Er beschrieb die Bedeutung des Gegenstands einem Reporter des Corriere della Sera , einer der größten italienischen Tageszeitungen: Das sei, so behauptete er, »eine gestutzte Pyramide mit hexagonalem Grundriss, die als Brücke zwischen dieser Welt und der Hölle dient«. Er grub aus einer alten Akte ein paar Fotos aus, die die Polizei von verdächtigen Steinkreisen mit Beeren und einem Kreuz gemacht hatte, an der Stelle, wo der Aussage eines alten Jagdaufsehers zufolge die französischen Touristen vier Tage vor ihrer Ermordung gezeltet hatten. (Viele andere Zeugen sagten aus, die beiden hätten seit mindestens einer Woche auf der Scopeti-Lichtung campiert.) Die Ermittler waren zu dem Schluss gekommen, dass die Steinkreise nichts mit dem Fall zu tun hatten. Giuttari war anderer Meinung. Er übergab die Fotos einem »Experten« in Sachen Okkultismus. Der Hauptkommissar legte das Ergebnis der fachmännischen Analyse in seinem Buch dar: »Wenn der Steinkreis geschlossen ist, symbolisiert er die Vereinigung zweier Menschen, also ein Liebespaar. Wenn er hingegen offen ist, bedeutet dies, dass das Paar auserwählt worden ist. Das Foto von den Beeren und dem Kreuz zeigt den Mord an den beiden Menschen an: Die Menschen sind die Beeren, ihr Tod wird durch das Kreuz symbolisiert. Das Foto von den verstreut herumliegenden Steinen zeigt die Zerstörung des Kreises nach der Hinrichtung der Liebenden.«
Da Pacciani & Co. sämtlich aus San Casciano kamen, vermutete Giuttari, der Satanskult müsse sein Hauptquartier in oder um diesen idyllischen kleinen Ort haben, der wie ein Juwel zwischen den Hügeln des Chianti liegt. Wieder einmal tauchte er tief in verstaubte Bestien-Akten ein und fand eine verblüffende Spur. Im Frühling 1997 waren eine Mutter und ihre Tochter mit einer seltsamen Geschichte bei der Polizei
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