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Die Bestien von Belfast

Die Bestien von Belfast

Titel: Die Bestien von Belfast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Millar
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Jungen und erkannte sich selbst wieder, vor Jahrzehnten, als Neunjährigen.
    Vater und Sohn trugen Tarnkleidung, als wären sie auf dem Weg in ein Kriegsgebiet und nicht in ein Jagdrevier. Auf Seans Camouflagejacke stand mit Filzstift das Wort
»Deer Hunter«
geschrieben.
    »Tut es weh, Dad?«, flüsterte Robert mit einem nervösen Unterton in der piepsigen Stimme. Mit dem Gewehr, das er an die Brust drückte, wirkte der Knabe zwergenhaft.
    Sean dachte einen Moment über die Worte seines Sohnes nach. »Dir nicht. Dem Wildschwein vielleicht, aber nur, wenn wir es nicht sauber erwischen. Wir müssen es mit einem Schuss erledigen. Andernfalls machen wir uns nur selbst das Leben schwer. Verstanden?«
    Robert nickte pflichtschuldig und schluckte so heftig, dass ihm der kleine Adamsapfel wie ein Rotkehlchenei am dünnen Halse hüpfte.
    Rechts von Sean erstreckte sich der Fluss wie ein breites, schwarzes, stummes Band, glatt wie Öl. Nur kleinste Wellen störten die Perfektion. Bäume warfen kohlrabenschwarze Schatten auf das Ufer. Weiter oben spaltete der Fluss das Jagdrevier in zwei Abschnitte und umspülte dabei ein Stück Land, das von rostenden Haushaltsapparaten übersät war und über dem der Gestank von Tierdung aus dem nahe gelegenen Zoo lag. Man munkelte, dass sich nachts Unheimliches am Fluss abspielte. Seltsame Geräusche. Seltsame Gerüche. Rudel wilder Hunde auf Beutezug …
    Ursprünglich hatte der Fluss keinen Namen und diente als Abraumhalde für Schrott und tote Tiere. Dann gab ihm ein ortsansässiger Dichter den Namen Apothetai. Sean begriff erst sehr viel später, wie treffend dieser Name war.
    Sean und Robert schlichen tiefer in den Wald hinein, während die helle Nachmittagssonne hinter ihnen zunehmend trüber wurde. Ein starker Wind verwehte den Gestank nach toten Fischen ein wenig; am Ufer ging das karge Gras in dichtere Grünstreifen über.
    Unvermittelt hörte Sean es in den Büschen rascheln. Hinter ihnen erklang ein tiefes und leises Geräusch. Das Geräusch schwoll an, verstummte, schwoll wieder an, als würde jemand in eine leere Flasche pusten. Sean konnte die Haare in seinem Nacken spüren.
    »Schon gut, das ist nur ein Hund«, sagte Sean. Robert, dessen erschrockenes Gesicht einer Maske glich, antwortete nicht gleich.
    Ein paar Sekunden später flüsterte Robert: »Dad … er beobachtet uns …«
    »Was …?« Sean zuckte zusammen, als er etwas am gegenüberliegenden Waldrand entdeckte und mit angehaltenem Atem studierte. Eine fast unmerkliche Bewegung – die man lediglich aufgrund der Beschaffenheit des Hintergrunds erahnte – half Sean, den Blick zu fokussieren. Die Augen des wilden Ebers glichen Kohlen. Stechend. Abwägend.
    Wie lange beobachtest du uns schon?
, fragte sich Sean.
    »Er grinst uns an, Dad.«
    »Sei nicht albern, Robert. Alle Eber gucken so.«
Du grinst tatsächlich.
Durch das Grinsen kam sich Sean wie ein Eindringling vor.
    Die Stoßzähne des Ebers wiesen eine teuflische Krümmung auf. Er verharrte reglos. Beobachtete. Aus einem unerfindlichen Grund beängstigte Sean diese kontrollierte Reglosigkeit.
    Fische schnellten in die Luft und unterbrachen die unnatürliche Stille.
    »Ganz ruhig, Robert … ruhig …« Sean spürte, wie seine Kopfhaut kribbelte und jedes einzelne Haar an seinem Körper sich statisch aufrichtete. Die Verkrampfung seines Nackens pflanzte sich in die Wirbelsäule fort; seine Muskeln wurden hart wie getrockneter Ton.
    »Was … was soll ich machen, Dad?«, fragte Robert mit unsicherer und nervöser Stimme.
    Sean leckte sich die trockenen Lippen. »Heb ganz langsam das Gewehr. Gut so. Ganz behutsam. Kein Grund zur Eile …«
    Das Schwarz in den Augen des Ebers wies blutunterlaufene Ränder auf. Die Farbe beunruhigte Sean zutiefst.
    Mit diesem Eber stimmt etwas auf ganz schreckliche Weise nicht, seine Größe, sein Verhalten, seine Zuversicht. Es ist fast, als würde er mit uns spielen.
    Und dann verschwand die unheimliche Kreatur fast so schnell, wie sie aufgetaucht war.
    »Er ist weg, Dad«, sagte Robert mit Erleichterung in der Stimme. »Oder nicht?«
    »Ja.« Sean lächelte gequält. »Aber wir sollten trotzdem wachsam bleiben. Wir überqueren den Fluss und gehen ein Stück weit flussabwärts. Dann können wir …« Etwas, das ihm durch Mark und Bein ging, nahm ihm plötzlich den Atem. Es war die Stille. Nicht einmal ein Vogel. Ihm wurde auf unerklärliche Weise klar, dass die Bestie irgendwo im Wald lauerte und sie belauschte.
    Riechst

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