Die Bestien von Belfast
die werden zum Verhör gebeten. Die Presse wird aus dem Häuschen sein. Inzest, ein grausiger Mord … für die ist das wie ein Sechser im Lotto.«
Karl setzte sich auf einen Grabstein und massierte sich die Brust. Das machte sein Herz manchmal, aussetzen oder nahezu wirkungslos schlagen. Es kam nicht oft vor, vielleicht ein- oder zweimal im Monat, und normalerweise fühlte er sich dann vorübergehend schwindelig. Diesmal nicht. Diesmal fühlte er sich dem Tode gefährlich nahe.
Du armes Mädchen …
»Karl? Alles in Ordnung?«
Karl spürte, wie ihm alles vor den Augen verschwamm, und konnte sich einen Moment nicht erinnern, wer die fragliche Person war; konnte sich nicht erinnern, warum er auf irgendeinem gottverlassenen Friedhof auf einem Grabstein saß und an eine junge Frau dachte, die starb, ohne zu ahnen, dass einer der Vergewaltiger und Mörder ihrer Mutter ihr biologischer Vater war.
»Karl? Hörst du mir zu?«
»Was?«
»Ich sagte, alles in Ordnung?«
Karl suchte nach Worten, als könnten Worte an und für sich ein erklärendes Element enthalten, und brachte schließlich heraus: »Mir ist nur schwindelig. Das ist die Grippe. Kannst ruhig wieder gehen, Tom. Ich komme später nach.«
»Bist du sicher?« Tom klang zögerlich. »Das ist hier kein gutes Umfeld für eine Grippe.«
Karl nickte. »Ich weiß, aber ich bleibe trotzdem noch einen Moment hier sitzen. Geh nur.«
Dreißig Minuten blieb er sitzen und beobachtete die Totengräber, die den lehmigen Erdhügel langsam im Grab von Jenny Lewis verschwinden ließen, bis sie fertig waren, sich entfernten und Karl mit der Toten allein ließen.
Tropfen schmutzigen Regens prasselten Karl auf den Kopf. Der Wind wehte allgegenwärtig und blies Laub und Schlamm in alle Richtungen. Und doch konnte sich Karl nicht aufrappeln und gehen.
Für Karl geriet die Zeit aus den Fugen. Alles sah finster und formlos aus, ein hoch konzentriertes Destillat aufziehenden Unheils. Nur der Wind über ihm war zu hören, und dieses schreckliche, laute Geräusch zwang ihn am Ende dazu, doch aufzustehen.
Zielstrebig verließ er den Friedhof und warf nicht einen Blick zurück.
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Sam Millar wurde 1955 in Belfast geboren. In den 70 er Jahren verbrachte er acht Jahre hinter Gittern, nachdem er auf dem Höhepunkt der Unruhen in Nordirland inhaftiert worden war. Wieder auf freiem Fuß, ging er in die USA , wo er 1993 einen der schwersten Raubüberfälle in der US -amerikanischen Geschichte initiierte und über sieben Millionen Dollar erbeutete. Millar wurde gefasst, später begnadigt und kehrte nach Belfast zurück, wo er seitdem Kriminalromane schreibt. Er stand auf der Shortlist zum Grand prix de littérature policière, wurde mit dem Brian Moore Award und dem Aisling Award for Art and Culture ausgezeichnet.
Joachim Körber, Jahrgang 1958 , arbeitet als Übersetzer und Verleger und hat neben Werken von Dan Simmons auch Stephen King ins Deutsche übertragen.
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© by Atrium Verlag AG , Zürich, 2013
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Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel
Bloodstorm
bei Brandon, Dingle und Unit 3 , London
© Sam Millar 2008
Aus dem Englischen von Joachim Körber
Covergestaltung: Zero Werbeagentur, München
Coverillustration: FinePic®, München
E-Book-Umsetzung 2013
ISBN 978-3-03792-035-0
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