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Die Bestien von Belfast

Die Bestien von Belfast

Titel: Die Bestien von Belfast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Millar
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verdurste.
    Obwohl seine Gedanken nur noch um Wasser kreisten, beschloss er, hier im Haus nichts zu trinken. Es kam ihm nicht richtig vor. Als würde er einen Toten bestehlen.
    Ohne noch mal zu zögern begab er sich in das Zimmer, vor dem ihm am meisten graute. Das Schlafzimmer. Dort erwartete ihn eine deutlich stabilere Tür.
    Die angelehnte Tür machte ihn nervös. Er stieß sie mit der Schuhspitze ein Stück weiter auf. Plötzlich war der ganze Raum zu sehen, wie ein stummes Foto ohne Tiefe oder Schatten.
    Selbst aus seinem ungünstigen Winkel sah Karl die zähen, klebrigen Blutflecken an der Unterseite des Betts. Das Blut war zu einer unebenen Masse geronnen, die eine Barriere an der Wand gegenüber bildete. Die unnatürliche Farbe verlieh dem Anblick einen surrealistischen Anstrich. Karl verspürte eine seltsame Melancholie.
    Er bückte sich, sah unter das Bett und bedauerte es sofort, als eine pflaumengroße, blutverklebte Kakerlake über sein Gesicht lief.
    »Elendes Drecksvieh! Verdammt noch mal …« Er gestand es sich nur ungern ein, aber das plötzliche Auftauchen des Insekts hatte ihn erschreckt. Fleisch- und Knochensplitter bedeckten den Boden. Ein Fetzen sah wie ein Ohrläppchen aus. Karl wurde schlecht. Er fragte sich, warum es zwei eindeutig unterschiedliche Blutspuren gab. Eine unter dem Bett, die andere dicht bei der Tür.
Was zum Teufel hat das zu bedeuten?
Das Blut unter dem Bett sah dunkel, fast schwarz aus. Die andere Spur wirkte öliger und heller. Lebendig.
    Ein Überlebender?
    Er richtete sich vom Boden auf, ließ den Blick durch das Zimmer schweifen und hoffte, dass er finden würde, weshalb er eigentlich hergekommen war. Die Kommode enthielt herzlich wenig; ebenso der Schrank mit zwei Pappkartons und einer Metallkiste. In dem großen Spiegel in der gegenüberliegenden Ecke spiegelte sich Karl. Sein Gesicht – kalkweiß – erwiderte fassungslos den eigenen Blick. Etwas nagte in ihm. Etwas beunruhigend Unheimliches. Er musste diesem Albtraum bald den Rücken kehren. Nicht bald. Sofort.
    Im Angesicht der Niederlage wandte Karl sich ab und entdeckte durch reinen Zufall die winzige weiße Ecke Papier, die wie ein Hemdenzipfel aussah, an der Rückseite des Rollstuhls. Er berührte den Rollstuhl zaghaft und bildete sich ein, er könnte noch die Körperwärme von Chris auf dem Sitz spüren. Hastig zog er die Blätter aus dem Geheimfach an der Rückseite der Lehne.
    In einem Schrank rechter Hand fand er eine Tesco-Plastiktüte und steckte das Manuskript hinein.
    Draußen zog er die Schlafzimmertür schnell zu, als ihm plötzlich klar wurde, dass er allen Bedenken zum Trotz jetzt doch einen Toten bestahl.
    Auf dem Weg zur Eingangstür bemerkte Karl plötzlich Schatten in der Diele. Stand etwa jemand draußen und spähte durch das Milchglas der Scheibe herein?
    Scheiße!
    Jemand drückte die Klinke. Die Tür klirrte leise. Das rostige Geräusch des Briefschlitzes, der aufklappte, ging Karl durch Mark und Bein. In der Öffnung erschienen tastende Finger. Sah ihn da etwa jemand an?
    So ein Mist …
    Vom Adrenalin befeuert, rannte Karl zur Hintertür, obwohl er wusste, dass dort vermutlich jemand auf ihn warten würde, dem er mit wehenden Fahnen in die Arme lief. Er hörte Holz und Glas knirschen, als die Eingangstür mit Gewalt aufgebrochen wurde. Jemand brüllte etwas. Seinen Namen?
    Scheiße!
    Hätte jemand Karl gesagt, dass er imstande wäre, eine drei Meter hohe Mauer binnen weniger Sekunden zu überwinden, hätte er sich vermutlich vor Lachen in die Hosen gemacht. Als er in sein Auto sprang, lachte er nicht. Aber um seine Hosen war es schlecht bestellt.

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    Kapitel  Einundzwanzig
    Sonntag, 25 .Februar
    »Die Leidenschaft, etwas zu jagen, ist tief im Herzen der Menschen verwurzelt.« Charles Dickens,
Oliver Twist
    Sean Harrisons Vater hatte ihn die Jagd gelehrt; hatte ihm gezeigt, wie man behutsam den Finger um Metall krümmte, wie man die Kraft und die Stärke spürte. Worauf er ihn nicht vorbereitet hatte, war der maultiertrittmäßige Rückstoß der Waffe, der ihn drei Schritte zurück und auf den Hintern warf, während seine Schulter sich anfühlte, als wäre sie ihm vom Körper gerissen worden. »Das wird mit mehr Erfahrung«, sagte sein Vater lachend, als er ihn aus dem Schlamm zog.
    Mit mehr Erfahrung …
    Heute, Jahre später, betrachtete Sean seinen eigenen Sohn Robert an einem trüben Sonntagvormittag unmittelbar vor dessen Feuertaufe, sah Eifer und Nervosität im Gesicht des

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